Er schenkte Wein in zwei einfache, irdene Becher. Er mochte es nicht, aus goldenen Pokalen zu trinken. Seine Dienerschaft hielt ihn für seltsam, das wusste er. Er verzichtete auf jeden Genuss. Sein Harem war längst aufgelöst. Nie ließ er sich ein junges Mädchen oder einen Knaben bringen. Er aß wenig Fleisch. Wer alles haben konnte, der fand irgendwann zum Reiz des Einfachen zurück.
Artax hielt Ashot einen Becher hin.
Der Hauptmann griff danach. Ihm war anzusehen, dass er sich unwohl fühlte. »Erzähl mir jetzt von Narek und deinen anderen Freunden.«
»Da gibt es nichts Bedeutendes …«
»Mein Leben ist übervoll von vermeintlich Bedeutendem. Ich vermisse es, einfach nur zu plaudern. Zu reden, wie Männer reden, die die Arbeit des Tages getan haben und mit ihren Freunden schwatzen.«
Ashot schien verwirrt, doch Artax war froh darüber. Endlich war es ihm gelungen, seinen Wall aus Distanz und Zynismus zu durchbrechen.
»Ich hätte niemals gedacht, dass ein Unsterblicher sich danach sehnen könnte, mit einfachen Männern über einfache Dinge zu reden.«
Artax nahm den Weinkrug und deutete zur Terrasse. »Lass uns an der Mauer sitzen und zusehen, wie die Sterne über dem Horizont erscheinen. Ich kann den Anblick all dieser Tontafeln nicht mehr ertragen.«
»Dann schmeißt sie doch einfach heraus.« Ashot lachte. »Ihr habt alle Macht der Welt. Wie kann Euch so etwas bedrücken?«
Artax ließ sich mit einem Seufzer gegen die Mauer sinken. Die Ziegelsteine waren noch warm von der Mittagssonne. »Ich will es eben gut machen.«
»Hm…« Ashot nahm einen ersten Schluck vom Wein und ließ ihn in seinem Mund kreisen. »Wirklich nicht gut, dieses Gesöff. Aber es schmeckt nach Zuhause.« Er setzte den Becher erneut an. »Ich finde, Ihr solltet nur die Schlachten schlagen, die es wert sind.« Er deutete in Richtung des Zimmers. »All diese Tontafeln da. Könnt Ihr nicht jemand anderen dafür finden? Einen neuen Datames? Macht Euch damit das Leben nicht sauer. Mir scheint, auch die Kräfte eines Unsterblichen haben Grenzen.«
»Ich glaube, es gibt Unsterbliche, die den Hauptmann ihrer Leibwache für solche Worte hängen lassen würden.«
Ashot grinste ihn herausfordernd an. »Und ich glaube, dass solche Unsterbliche nie darunter leiden, dass es niemanden gibt, mit dem sie ein offenes Wort sprechen können.« Er hob ihm herausfordernd den Weinbecher entgegen, und Artax prostete ihm zu. Es tat gut, endlich wieder mit jemandem frei zu reden, den er schon seit Kindertagen kannte, auch wenn Ashot keine Ahnung hatte, wer sich hinter der Maske des Unsterblichen verbarg.
»Wir haben den Luwiern ordentlich den Arsch aufgerissen«, murmelte der Hauptmann. »Narek sollte jetzt hier mit uns sitzen.«
»Er war ein tapferer Mann«, sagte Artax. Es schmerzte ihn, so unpersönlich von seinem Jugendfreund sprechen zu müssen.
»Es war gut, dass ihr ihn in sein Dorf zurückgebracht und mit seinem Weib gesprochen habt. Auch wenn sie Euch schlecht behandelt hat … Es hat auf viele Männer Eindruck gemacht. Auch davon wird man noch lange sprechen.«
»So wie von den Morden im Steinhorst.«
»Es sind Eure Taten, die entscheiden werden, was die Menschen von Euch denken, Herr. Eleasar ist tot. Ihr aber lebt. Ihr könnt diesen Schandnamen wieder auslöschen.«
Artax füllte seinen Becher nach und betrachtete die untergehende Sonne. Den ganzen Tag über hatte er nicht an die Devanthar gedacht und daran, dass der Löwenhäuptige nicht gekommen war, um sein Versprechen einzulösen. Was war geschehen? Was zählte noch, wenn das Wort eines Gottes nicht mehr galt?
»Narek und ich, wir hatten einen Freund in unserem Dorf Belbek. Ihr hättet ihn kennen sollen. Ein verrückter Kerl. Er hat sich ein Weib ausgedacht. Ihr müsst Euch das vorstellen, Herr. Es gab sie nur in seinen Gedanken. Er hat ihr sogar einen Namen gegeben. Almitra. Er wollte auch die Welt verbessern, so wie Ihr. Ich glaube, Ihr hättet ihn gemocht.«
»Wie hieß er?«
»Artax.«
Es war ein seltsames Gefühl, Ashot so über sich reden zu hören.
»Glaubst du, für diese Nacht könnten wir einfach Trinkkumpane sein und du könntest darauf verzichten, mich wie einen König anzusprechen?«
»Und morgen legt Ihr mir den Kopf vor die Füße für diese Frechheit?«
»Mindestens!«
Ashot lachte. »Dann sollten wir uns heute so besaufen, dass ich morgen nicht mehr viel spüre.« Er hob erneut den Becher. »Auf dich, Unsterblicher!«
»Auf uns, die wir noch übrig geblieben sind.« Krachend ließen sie die Tonbecher gegeneinanderprallen.
»Was ist aus diesem Artax geworden?«
Der Hauptmann seufzte. »Er ist nach Nangog gegangen. Er wollte dort sein Glück machen. Ich habe nie wieder von ihm gehört. Keine Ahnung, ob er noch lebt. Wahrscheinlich eher nicht. Soll nicht so golden sein, diese neue Welt, wie die Bauernwerber auf den Dörfern erzählen.«
»Vielleicht ist er ja jetzt ein reicher Kaufherr? Manchen ist Nangog wohlgesonnen. Es ist eine Welt voller Wunder, in der ein Bauer zu einem Herrscher werden kann.«
Ashot lachte auf. »Ich bitte Euch …äh, dich. Das sind doch Ammenmärchen. In Nangog wird ein Bauer ebenso wenig zum Fürsten wie in Aram.«
Artax lächelte in sich hinein. Genauso hatte Ashot geredet, als er mit seinem Freund zum ersten Mal darüber gesprochen hatte, nach Nangog zu gehen. Er hatte ihn als völlig verrückten Träumer beschimpft. »Sitzt neben mir nun ein Bauer, der in einem halben Jahr zum Hauptmann der Leibwache eines Unsterblichen aufgestiegen ist, oder nicht?«
»Das ist etwas anderes!«, entgegnete Ashot aufgebracht. »Und ein Fürst bin ich nicht.«
»Nein, aber die Satrapen des Reiches fürchten dich. Du bist ein mächtiger Mann, Ashot.«
»Vielleicht«, murmelte er. »Aber Artax ist das nicht.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Er wäre zurückgekehrt.« Der Hauptmann hob nachdenklich den Weinkrug und schenkte sich nach. »Artax war ein verdammt guter Kerl. Hab nie wieder einen wie ihn getroffen. Weißt du, was er wollte? Er wollte sein Gold gar nicht für Felder und ein schönes Haus ausgeben. Er wollte das Bewässerungssystem verbessern, damit alle Bauern im Dorf es leichter hätten.« Er lachte. »Und ein hübsches, kluges Weib wollte er sich nehmen. Sie sollte eine genauso scharfe Zunge haben wie diese Almitra, die er sich erträumt hatte.«
Der Wein schmeckte Artax plötzlich allzu sauer. Er hatte all seine Kraft in seinen Krieg gesteckt, statt seine alten Träume wahr werden zu lassen. Hätte er Belbek geholfen, wäre Narek vielleicht niemals auf den Gedanken gekommen, in den Krieg zu ziehen. Und Ashot wäre nicht so verbittert. Sie beide könnten jetzt noch unter der Zeder beim Dorfbrunnen sitzen, hätte er sie nicht verraten.
Die nächsten Worte Ashots rissen Artax aus seinen Gedanken.
»Wir sollten Mataan besuchen!« Der Hauptmann erhob sich leicht schwankend. »Und auf dem Weg zu ihm müssen wir noch einen Krug von diesem köstlichen Wein auftreiben.«
»Der Heiler wird das nicht gut finden.«
Sein alter Freund grinste ihn verschwörerisch an. »Bestimmt! Aber er wird sich nicht gegen den Unsterblichen stellen. Dieses Schwabbelkinn hat keinen Arsch in der Tunika. Er wird finster schauen, und das war es auch schon. Und Mataan könnte dringend mal eine Aufmunterung gebrauchen. Vielleicht kommt er dann wieder auf die Beine.«
Artax war sich nicht sicher, ob er schon betrunken war, aber er fand Ashots Einfall verlockend. Sie machten sich auf den Weg, und es kam tatsächlich so, wie Ashot es prophezeit hatte. Der Heilkundige suchte das Weite, ohne ernsthaft Einspruch zu erheben. Und Mataan war glücklich, auch wenn er zu schwach war, um seinen Becher selbst zu halten.
Sie tränkten seinen Bart und die rote Decke mit apameischem Roten. Mataan brachte nur ein paar Schluck herunter, dann begann er leise ein Fischerlied zu singen, das Ashot zu Tränen rührte. Es war ein guter Abend, fast wie ein Traum.
Zuletzt lag Artax auf dem Dach des Palastes. Ashot schnarchte neben ihm zum Erbarmen. Und er blickte zu den Sternen hinauf und konnte zwischen ihnen das Antlitz Shayas sehen. Sie war so nah!