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Freiwild

Shaya sah Kara nach. Die pummelige Priesterin hatte ihr wieder etwas zu essen vor das Viehgatter gestellt. Kara kam fast jede Nacht. Ob sie sich das Essen vom Munde absparte oder aus der Küche stahl, wusste die Prinzessin nicht. Dünner war Kara in den letzten Wochen jedenfalls nicht geworden.

Ein schmaler Sichelmond stand am Himmel. Er schenkte gerade genug Licht, um ein paar Schritt weit zu sehen. Es blieben genug Schatten, um sich zu verbergen. Shaya wusste genau, welchen Weg sie nehmen würde. In den letzten Wochen, die sie zwischen den Ziegen des Klosters verbracht hatte, hatte sie sich jede Einzelheit ihrer Umgebung eingeprägt. Stunden hatte sie dagesessen und gestarrt. Alle hielten sie für verrückt. Das würde ihre Flucht erleichtern. Ihr blieben jetzt sieben oder acht Stunden, in denen niemand mehr nach dem Viehstall sehen würde. Genug Zeit, um einen guten Vorsprung zu bekommen. Hier in den Bergen könnte man keine Reiter zur Verfolgung schicken. Wer sie jagte, war ebenso zu Fuß wie sie. Sie würde ihnen zeigen, dass sie keineswegs gebrochen war. Sie würde ihnen allen davonlaufen!

Entschlossen schwang sie sich über das Gatter. Von Norden wehte ein kalter Wind. Noch war es Spätsommer, aber die Nächte wurden schon eisig. Der Winter würde in dieser Höhe früh Einzug halten. Shaya hatte keine Ahnung, was sie jenseits des Tals erwartete, in dem das Haus des Himmels lag. Sie warf einen kurzen Blick zum Kloster zurück. Nur in einem einzigen Fenster brannte noch Licht. Tabitha, die Mutter der Mütter, war noch wach. Sollte der mürrischen Alten das Herz stehen bleiben, wenn man ihr morgen die Nachricht brachte, dass die Barbarenprinzessin geflohen war.

Shaya setzte ihre Schritte mit Bedacht. Sie ging barfuß. Eine fadenscheinige Tunika war ihr einziges Kleidungsstück, und sie stank nach Ziegen, aber das würde helfen, sollten die Priesterinnen nach Bluthunden schicken, um sie zu jagen. Die Prinzessin folgte den Pfaden, auf denen die Ziegen jeden Tag zu den Weiden auf der anderen Seite des Tals getrieben wurden. Es würde schwer werden, ihre Witterung von der der Ziegen zu unterscheiden.

Shaya schmerzten die Füße, noch bevor sie die erste Meile hinter sich hatte. Aber sie war darauf vorbereitet. Im Stall hatte sie ihre Fußsohlen immer wieder über die verputzte Rückwand gerieben. Sie hatte gehofft, so die Hornhaut unter ihren Sohlen zu stärken. Ihr ganzes Leben lang hatte sie stets Stiefel besessen. Sie konnte sich nicht erinnern, je weiter als ein paar Schritt barfuß gegangen zu sein. Sie wusste, das würde ihre größte Sorge werden. Bald schon wären ihre Füße wund. Dann würden sie zu bluten beginnen. Und einer Blutspur würden Hunde leicht folgen können.

Shaya ging neben dem Weg. Das kurze, trockene Gras kitzelte ihre Sohlen. Nur selten stieß sie gegen einen Stein. Mehr als eine Stunde war vergangen, als sie die Viehweiden erreichte. Der Mond stand nur noch drei Handbreit über den Bergen. Das erleuchtete Fenster der Mutter der Mütter war zu einem winzigen Punkt hinter ihr geschrumpft. Freiheit! Es tat gut, dem Käfig entronnen zu sein. Lebend würden sie die Priesterinnen nicht fangen, das schwor sich Shaya. Sie würde nicht noch einmal wie ein Tier in einem verdreckten Stall vegetieren. Eher würde sie sich von einem Felsen stürzen.

Wolken zogen vor den Mond, und ein eisiger Regen setzte ein. Es war nun so dunkel, dass die Prinzessin kaum die Hand vor Augen sah. Shaya hatte die Viehweiden hinter sich gelassen und tastete sich dem Bergkamm entgegen, der für sie in den vergangenen Wochen das Ende der Welt gewesen war. Sie hatte zwar die blassen Umrisse noch höherer Berge in der Ferne gesehen, aber sie hatte nicht die geringste Vorstellung, wie das Land jenseits des Tals aussah, in dem das Haus des Himmels lag. Gab es dort fruchtbare Hänge und kleine Dörfer oder nur eine öde Steinwüste, über die sich unüberwindliche Gletscher erhoben? Shaya war klar, dass sie verloren war, wenn sie keine Menschen jenseits des Bergkamms fand. Ihre Tunika war völlig durchnässt und klebte an ihrer Haut. Sie brauchte dringend bessere Kleidung und zumindest Lumpen, die sie sich um die Füße wickeln konnte. Und Nahrung. Sie war sich des Risikos ihrer Flucht voll und ganz bewusst. Wenn sie Pech hatte, erwartete sie als einziger Trost ein Tod in Freiheit.

Langsam arbeitete sie sich einen Hang hinauf, den breite Geröllzungen bedeckten. Bei jedem Tritt gaben die Steine nach und lösten kleine Lawinen aus. Immer wieder rutschte sie aus. Schließlich tastete sie sich auf allen vieren vorwärts. Zuletzt kletterte sie über blanken Fels. Ihre Füße waren zerschunden. Jeder Schritt schmerzte. Die Handflächen waren aufgeschürft, und der eisige Wind, der ihr den Regen entgegentrieb, ließ sie unkontrolliert zittern.

Shaya biss die klappernden Zähne zusammen. Ihre Bewegungen wurden fahriger. Sie dachte an die warmen Ziegenleiber und den geschützten Platz, den sie aufgegeben hatte. Leise fluchend kletterte sie weiter. Was war aus der Kriegerprinzessin geworden, die sie einmal gewesen war? Sich nach der Geborgenheit stinkender Ziegen zu sehnen! Sie brauchte eine ordentliche Schlacht, um wieder klar zu werden. Zu lange hatte sie keinem Bastard mehr ihre Dornaxt im Schädel versenkt.

Endlich erreichte Shaya den Bergkamm. Und sah nichts! Die Finsternis war vollkommen. Lag unter ihr Ödland oder ein bewohntes Tal? Verzweifelt blickte sie zum Himmel auf. Der eisige Regen streichelte ihre Wangen. Sie sehnte sich danach, sich irgendwo zu verkriechen und das erste Licht abzuwarten. Aber sie durfte nicht stehen bleiben. Die Stunden der Nacht waren unbezahlbar. Jede Rast verringerte den Vorsprung, den sie vor ihren Verfolgern hatte. Und da war noch etwas. Es war zu kalt! Sie wusste, dass der Kältetod nicht allein mit Eis und Schnee kam. Wenn sie sich jetzt niederlegte, würde sie binnen einer Stunde völlig ausgekühlt sein. Sie würde müde werden und in das große Dunkel hinüberschlafen.

Shaya entschied sich für den Abstieg. Noch immer bewegte sie sich auf allen vieren, jetzt aber rückwärts. Der Regen hatte an Stärke zugenommen. Der Fels war schlüpfrig. Sie tastete in alle Richtungen, aber es gab keinen Pfad. Immer wieder blickte sie verzweifelt zum Himmel, doch der Mond verbarg sich hinter Wolken. Es war unmöglich abzuschätzen, wie lange die Nacht noch dauern würde.

Sehr langsam kroch sie tiefer. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, als sie endlich einen Geröllstreifen erreichte. Kurz dachte sie, es würde nun einfacher werden. Doch dann gerieten die Steine unter ihren Füßen ins Rutschen, und sie musste sich fallen lassen, um nicht unkontrolliert zu stürzen. Mit den Steinen glitt sie ein wenig tiefer. Dann hörte die Bewegung auf.

Links von ihr erhob sich ein Block geronnener Finsternis. Ein Fels? Was sonst, du törichtes Huhn, schalt sie sich stumm. Sie blieb liegen. All ihre Glieder schmerzten. Der Regen streichelte sie. Sie fühlte sich taub und kraftlos. Die Kälte spürte sie schon gar nicht mehr.

Hatte sich der Fels bewegt? Shaya lachte auf. Was für ein Hasenherz sie geworden war!

Als Antwort auf ihr Lachen erklang ein tiefes Brummen. Der Fels bewegte sich tatsächlich. Ein Bär! Kara hatte einmal davon erzählt, dass sich gelegentlich ein Bär eine der Ziegen holte.

Shaya sprang auf und geriet auf dem Geröll sofort erneut ins Rutschen. Der Bär war so nah, dass sie glaubte, sein nasses Fell zu riechen. Er setzte ihr nach. Dabei bewegte er sich deutlich geschickter als sie.

Shaya rollte herum, versuchte hochzukommen und schlitterte noch ein Stück durch das Geröll. Etwas tiefer hörte sie Steine klackernd auf Felsen schlagen. Sie stieß sich das Knie an einem Vorsprung, der wie eine flache Insel aus den Gesteinstrümmern ragte. Wütend packte sie einen Stein und schleuderte ihn nach dem Bären. Lautes Brüllen war die Antwort.

Da sprang sie auf und richtete sich zu voller Größe auf. Doch sie fand keinen festen Stand, schlitterte langsam hangabwärts und brüllte nun ihrerseits aus Leibeskräften. Sie glaubte einmal gehört zu haben, dass man Raubtiere durch mutiges Auftreten und wilde Schreie in die Flucht schlagen könne. Der Bär hatte offensichtlich noch nicht davon gehört.