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Das Licht des Sichelmondes fiel durch eine Lücke zwischen den Wolken, und einen Herzschlag lang sah Shaya die fingerlangen Fänge der Bestie über sich. Dieser Anblick veränderte alles, und große Ruhe überkam sie. Sie hatte in mehr als dreißig Scharmützeln und in zwei großen Reiterschlachten gekämpft. Panik bedeutete den Tod. Wenn der Bär durch ihre Schreie auch nicht erschreckt war, so war er doch zumindest verunsichert. Sie bückte sich und hob den größten Stein auf, den ihre klammen Finger zu packen bekamen.

»Du willst mich als Nachtmahl?«, zischte die Prinzessin. »Das wird dich Zähne kosten! Ich bin keine Ziege, auch wenn ich so rieche.« Sie schnellte vor und schlug dem Bären mit aller Kraft den Stein in die Schnauze.

Der dunkle Räuber brüllte erneut auf, dann stürmte er vor. Shaya sprang zur Seite, doch der massige Leib des Bären streifte sie. Sie geriet auf dem Hang ins Schlittern. Sofort ließ sie sich fallen. Unter ihr war blanker Fels. Jetzt rutschte sie auf dem Bauch. Ihre Tunika zerriss. Verzweifelt versuchte sie, sich im Gestein festzukrallen, wurde aber immer schneller.

Der Bär lief einfach neben ihr her. Wieso fanden seine großen Pfoten Halt? Ihr wurde klar, dass er sich anders als sie schon ein ganzes Leben lang durch diese Berge bewegte. Sie konnte ihm nie entkommen. Bald würden neue Wolken vor den Mond ziehen und den Hang in Dunkelheit hüllen. Sie musste ihren letzten Kampf liefern, solange es wenigstens noch ein wenig Licht gab. In diesem Augenblick fanden ihre Füße Halt. Ihr ganzer Leib brannte, obwohl der strömende Regen in Sturzbächen an ihr hinabrann, als sie sich aufrichtete. Sie lockerte ihre Schultern. Hob die Arme. Es war lächerlich, sie hatte nicht einmal mehr einen Stein als Waffe. Mit bloßen Händen würde sie gegen den Bären nichts ausrichten können.

Der Regen wob silberne Schleier über das glatte Felsgestein. Shaya erkannte, dass vier oder fünf Schritt hinter ihr der abschüssige Hang abbrach. Lag dort eine tiefe Schlucht, oder war es nur ein Felsspalt? Sie konnte es in dem spärlichen Licht nicht erkennen.

Der Bär war ebenfalls stehen geblieben. Er riss den Kopf hoch, um ihr entgegenzubrüllen. Es war ein Schrei, der sicher noch Meilen entfernt zu hören war. Dann stürmte er vor. Shaya wich auf dem glatten Fels aus, doch ihre wunden Zehen fanden keinen Halt auf dem schlüpfrigen Stein. Sie stolperte dem Abgrund entgegen. Wild schwenkte sie die Arme. »Komm her! Hol dir deine Ziege!« Sie sah, dass die Schnauze des Bären blutete. Einer der langen Reißzähne war abgebrochen. Jetzt kam auch der Bär auf dem glatten Fels ins Rutschen. Er versuchte, sich mit den mächtigen Pfoten gegen den Hang zu stemmen.

Wind und Wetter hatten den Fels in Jahrhunderten glatt geschliffen. Shaya wandte sich um. Es war nur noch ein Schritt bis zum Abgrund. Sie wusste, dass sie sich nicht würde halten können. Jetzt würde sie ihren Devanthar zum letzten Mal sehen. Es hieß, der Weiße Wolf käme zu allen Sterbenden.

Als sie ins Dunkel stürzte, riss sie ihre Arme hoch und stieß ihren Schlachtruf aus, der so oft Schrecken und Verzweiflung in die Herzen ihrer Feinde getragen hatte. Im Sturz drehte sie sich und sah auch den Bären über die Felskante stürzen, und tiefe Zufriedenheit überkam sie.

Sie war auch in ihrem letzten Kampf unbesiegt geblieben.

Das Ziegenmädchen

Ein nasser Lappen fuhr ihr durchs Gesicht und kitzelte ihre Nase. Shaya fühlte sich taub, zerschlagen, kalt. Dazu kam noch diese subtile Folter mit dem Lappen.

Die Luwier glaubten an ein Leben nach dem Tod, irgendwo tief unter der Erde, gefangen in ewiger Finsternis, wo Daimonen die Seelen der Menschen quälten. War sie aus Versehen an diesen Ort geraten, weil sie irgendwo in den Bergen Luwiens gestorben war? Sie sollte mit den Geistern ihrer Ahnen über den weiten Himmel des Graslands reiten. Dies war der Platz, der den Helden ihres Volkes vorbehalten war! Sie wurden zum Gefolge des Weißen Wolfes. In dem Moment, in dem sie das dachte, begriff Shaya, warum sie nicht über den Himmel ritt: Sie war keine Heldin! Sie hatte ihr Schicksal nicht auf sich genommen. Sie war davongelaufen und dabei umgekommen.

Shaya schlug die Augen auf und blickte auf einen nur eine Handbreit entfernten Ziegenkopf. Eine Ziege? Sie lebte also und ritt noch nicht an der Seite ihrer Ahnen. Aber wo war sie? Immer noch im Stall? Hatte sie ihre Flucht nur geträumt? Sie wollte sich aufsetzen, schaffte es jedoch nicht einmal halb hoch, bevor sie stöhnend zurücksank. Ihr Leib fühlte sich an, als sei eine durchgehende Pferdeherde über ihn hinweggetrampelt.

Shaya blinzelte. Die Ziege war immer noch da. Sie hatte eine große, weiße Blesse auf der Stirn und sah streng auf sie herab. Offensichtlich war sie verärgert darüber, dass Shaya etwas dagegen hatte, abgeschleckt zu werden.

Hinter der Ziege sah die Kriegerin eine Felswand aufragen. Sie war nicht allzu hoch, vielleicht sieben oder acht Schritt. Oder doch weniger? Shaya wandte den Kopf. Nur ein kleines Stück von ihr entfernt lag ein Bär. Der Bär! Sie sah in seine toten Augen, und alle Erinnerungen kehrten zurück: die Flucht, der Regen, die Kälte und zuletzt dieser Bär. Während sie selbst auf einem Grasflecken gelandet war, war er auf einen Felsklotz aufgeschlagen. Schlieren aus dunklem, getrocknetem Blut zeichneten sich auf dem hellgrauen Stein ab. Das hieß, er hatte noch geblutet, als der Regen aufgehört hatte. Der Kopf des Bären war ihr zugewandt. Seine schwarzen Augen waren erloschen. Er hatte sie angestarrt, bis er starb, zu schwer verletzt, sich in seiner letzten Stunde noch vom Fels zu seiner Beute zu schieben.

Zwei buntscheckige Ziegen leckten das getrocknete Blut des Bären.

Shaya fuhr sich mit der Zunge über die trockenen, rissigen Lippen. Sie hatte Durst, und ihr war schwindelig. Tief in ihrem Kopf nistete ein pochender Schmerz. Sie wusste, dass sie von hier fortmusste. Waren das Wildziegen? Oder durfte sie hoffen, dass irgendwann ein Hirte nach den verschwundenen Tieren suchte?

Die Ziege mit der Blesse wandte sich von ihr ab. Ihr Fell war struppig und verfilzt. Sollte es einen Hirten geben, dann kümmerte er sich nicht gut um seine Tiere.

Sie sollte sich besser um sich selbst kümmern, als darauf zu hoffen, von irgendjemandem gerettet zu werden. Erneut versuchte Shaya sich aufzurichten. Sie dachte an das Grauen, das sie auf den Schlachtfeldern gesehen hatte. Den Himmelspiraten, der noch weiterkämpfte, obwohl ihm eine Axt im Kopf steckte. Einen ihrer Gefährten, der auf Stümpfen weitergelaufen war, nachdem ihm ein Katapultgeschoss die Beine abgerissen hatte. Inmitten der Schrecken der Schlacht hatten sie alle ihren Schmerz vergessen und weitergekämpft. Das musste sie jetzt auch schaffen. Sie durfte sich nicht so anstellen. Gewiss hatte sie nur ein paar blaue Flecken und Schürfwunden.

Als sie saß, musste sie um Atem ringen. Ihr wurde klar, dass sie alleine nicht auf die Beine käme und etwas brauchte, um sich hochzuziehen. »Komm, mein Zicklein. Komm!« Shaya streckte der Ziege mit der Blesse ihre blutige Hand entgegen. Das Tier legte den Kopf schief und betrachtete sie misstrauisch. Dann siegte die Neugier. Sie kam näher. Als die Geiß ihre Hand leckte, packte sie sie bei den Hörnern. Die Ziege riss den Kopf zurück. Mit dem Ruck lief eine Welle brennenden Schmerzes durch Shayas Leib. Sie stemmte sich auf ein Knie und hielt verzweifelt fest, während die Geiß ihren Kopf hin und her warf.

Mit einem Schrei kam Shaya hoch. Sie zitterte am ganzen Körper. Die Ziege war eingeschüchtert, hielt endlich still und stieß ein klägliches Meckern aus. »Ich bin die Tochter des Unsterblichen Madyas«, schleuderte ihr die Kriegerprinzessin entgegen. »Ich werde hier nicht untergehen!«

Sie stieß die Ziege mit dem Knie und lenkte sie in Richtung des toten Bären. Die Prinzessin tastete über die Schnauze und den abgebrochenen Fangzahn. »Es tut mir leid, dass sich unsere Wege gekreuzt haben. Möge deine Seele Frieden finden.« Kurz überlegte sie, mit einer der Bärenklauen den Kadaver aufzuritzen und ein Stück Fleisch herauszuschneiden. Sie musste essen. Aber wenn sie die Geiß losließ, würde die sicher davonlaufen, und ein zweites Mal würde sich das Vieh nicht hereinlegen lassen.