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Die Ziege bäumte sich auf, als hätte sie gespürt, dass Shaya mit ihren Gedanken nicht bei ihr war. Sie riss den Kopf hart zur Seite und versetzte Shaya einen Stoß mit ihren gebogenen Hörnern, der die Prinzessin unter dem Rippenbogen traf. Shaya revanchierte sich, indem sie der Ziege das Knie in die Flanke rammte. Daraufhin herrschte Waffenstillstand.

»Du wirst meine Stütze sein, ob es dir gefällt oder nicht«, zischte Shaya, dann sah sie sich unschlüssig um. Sie stand inmitten großer Felsblöcke, die unterhalb der Steilwand lagen. Sollte sie hier ausharren oder versuchen, weiter den Hang hinabzugelangen? Shaya war sich sicher, dass die Mittagsstunde noch fern war, denn die Sonne stand noch nicht sehr hoch am Horizont. Bis etwaige Verfolger die Bruchkante über ihr erreichten, könnte sie es riskieren, über ein weites Geröllfeld zu gehen, oder was immer sie jenseits der Felsen erwartete. Tiefer im Tal würde sie sicher auch noch Deckung finden. Die Frage war nur, ob sie es so weit schaffte. Immer noch schmerzten all ihre Glieder. Sie schien sich nichts gebrochen zu haben. Aber sie fühlte sich, als würde sie selbst gegen einen Greis, der am Stock ging, bei einem Wettlauf verlieren.

Shaya schob die mürrische Ziege zwischen den Felsen hindurch, bis sie einen Blick auf das Tal erhaschte. Irgendwelche Behausungen konnte sie dort nicht entdecken. Es gab auch nur vereinzelt windgeduckte Bäume. Nichts wies darauf hin, dass sich hier Menschen niedergelassen hatten. Sie blickte auf die Geiß hinab. Sie würde sie töten, wenn sie unten im Tal war. Sie musste essen! Zur Not auch rohes Fleisch. Wenn sie weiter flüchten wollte, brauchte sie Kraft.

»Gehörst du zu jemandem?«

Die Ziege gab einen leisen, kläglichen Laut von sich. Fast, als wüsste sie um ihr Schicksal.

Mit einem leichten Schubs und ohne ihren Griff um das Horn zu lockern, begann sie den Abstieg. Gezogen zu werden, half. Zum Glück war das Gefälle sanft. Bald fühlte Shaya sich nicht mehr ganz so schlecht wie beim Erwachen. Ihr war aber klar, wie trügerisch dieses Gefühl war. Wenn sie eine Rast einlegte, würde sie erneut kaum auf die Beine kommen. Sie brauchte dringend Hilfe!

Sie kamen unendlich langsam voran. Shaya richtete den Blick auf den Talgrund. Dort schien es einen Bach zu geben. Wieder strich ihre Zunge über ihre spröden Lippen. Trinken … Sie sollte an etwas anderes denken. An den Unsterblichen Aaron.

Die Kriegerprinzessin wusste, dass er nicht hatte kommen können, um sie zu retten. Selbst er vermochte sich nicht in einen Pakt zu drängen, den Devanthar miteinander geschlossen hatten. Išta hatte sie auserwählt, um Aaron zu demütigen. Nur deshalb war sie in aller Öffentlichkeit auf der Zikkurat von Isatami, der Stufenpyramide inmitten der heiligsten Stadt Luwiens, von Muwatta vergewaltigt worden. Išta hatte Aaron dazu verleiten wollen, sich gegen den Ratschluss der Götter aufzulehnen. Selbst jetzt noch! Shaya wollte den Unsterblichen nicht zu Grunde richten. Und doch schmerzte es sie tief im Innersten ihres Herzens, dass er nicht gekommen war, um sie zu retten.

Die Wut trug Shaya vorwärts. Wut, dass Aaron nicht hier war. Wut, dass sie seine Gründe verstand. Er war eben kein König aus einem Märchen. Und selbst die legten sich nur mit Ungeheuern, nicht aber mit den Göttern an. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Er hätte sie selbst aus den Klauen eines Drachen befreit, sie wusste das. Aber gegen die Geflügelte war er ohnmächtig. Welchen Gefallen fanden Götter daran, Menschen so sehr zu quälen? Sie wünschte sich, sie hätte ein Zauberschwert, eine Waffe, wie sie die Daimonen schmiedeten. Sie stellte sich vor, wie sie der geflügelten Išta die Klinge durch den Leib rammen würde. In allen Farben malte sie sich dieses Bild aus. Sie sah die schreckensweiten Augen der Göttin vor sich, spürte, wie ihr warmes Blut den Stahl hinabrann, bis es ihre Hand benetzte.

Shaya blinzelte die Tränen fort und blickte wieder zum Himmel hinauf. Die Sonne stand fast im Zenit. Sie war lange gegangen – halb ohnmächtig und gefangen in wirren Tagträumen. Jetzt konnte sie den kleinen Wildbach hören. Sein Rauschen erinnerte sie an ihren Durst. Sie stellte sich vor, wie sie sich in das Wasser legen würde, ganz gleich, wie kalt es war, und trinken, trinken, trinken…

Plötzlich stieg ihr Rauch in die Nase. Verdammt, wie hatte ihr das entgehen können. Es brannte ein Feuer. Ganz nah! Langsam drehte sie sich mit der Ziege um ihre eigene Achse. Links. Zwischen zwei großen Felsquadern stieg eine dünne, blassblaue Rauchsäule auf. Sie war fast unsichtbar.

Shaya griff nach ihrer Hüfte, um die Dornaxt aus der Lederschlaufe am Gürtel zu ziehen, so wie sie es unzählige Male getan hatte. Nur waren da weder Gürtel noch Axt. Und ehe sie sich versah, trabte die Geiß davon, die endlich ihrem Griff entronnen war.

Fluchend rang die Prinzessin um ihr Gleichgewicht und bemerkte, dass sie gar keine Stütze mehr brauchte. Sie konnte alleine gehen. Steif bückte sie sich und hob einen Stein auf. Es gab also doch einen Hirten. Hatte er sie gesehen? Hielt er sie für eine Diebin? Mit Pferdedieben wurde bei ihr zu Hause im weiten Grasland nicht lange gefackelt. Dort wartete niemand darauf, dass ein Ältester oder einer der Vertrauten ihres unsterblichen Vaters ein Urteil sprach. Man brachte Diebe einfach um. Was machten sie hier wohl mit Ziegendieben? Shaya konnte sich gut vorstellen, dass es in diesen einsamen Bergen nicht anders war als im Grasland.

Ein wenig schwankend schlich sie sich an die Rückseite der Felsquader. Hatte man sie bemerkt? Sie lehnte sich gegen das warme Gestein, atmete tief ein. Sie musste den Hirten überraschen. Bestimmt war er allein.

Shaya bückte sich, hob einen kleinen Kiesel auf und schleuderte ihn davon, sodass er ein ganzes Stück entfernt laut klackend von den Felsen abprallte. Im selben Moment schnellte sie hoch und umrundete den grauen Quader. Sie musste im Rücken des Hirten auftauchen, sobald der sich nach dem Geräusch umsah.

An der Lagerstelle saß niemand! Neben dem Feuer lag ein zerschlissener Umhang ausgebreitet. Ein Wasserschlauch lehnte am Felsen. Und auf einem Stein in der Glut lag ein blutiger, länglicher Kadaver. Ein Murmeltier? Shaya erfasste all das binnen eines Herzschlags, und sie wusste, dass sie es war, die in die Falle gegangen war. Sie presste sich gegen den Fels, als der Schatten sich auf sie senkte. Dann traf sie ein Schlag in den Nacken.

Der Hirte und die Prinzessin

Shaya stürzte und wurde fest zu Boden gepresst. Sie spürte ein Knie in ihrem Nacken und schlug mit aller Kraft mit dem Stein, den sie in der Faust hielt, nach hinten. Sie traf. Der unsichtbare Angreifer heulte auf. Er war nicht sehr schwer. Shaya stemmte sich auf die Ellenbogen, schüttelte ihn ab, drehte sich blitzschnell um und schleuderte ihm den Stein ins Gesicht.

Der Hirtenjunge schrie auf. Der Stein hatte ihn auf der Nase getroffen. Shaya hörte es knacken. Dunkles Blut quoll aus der Nase. Sie musste gebrochen sein. Der Junge starrte sie entsetzt an. Er war höchstens sechzehn. Zarter Flaum spross um sein Kinn. Langes, dunkles Lockenhaar rahmte sein Gesicht.

Aus dem Tuchstreifen, den er als Gürtel um die Hüften gewickelt hatte, ragte ein mit Leder umwickelter Griff. Shaya zog die Waffe, bevor der Hirte wieder zu sich kam und etwas Unbedachtes tun konnte. Die Klinge war aus Knochen gefertigt. Sie musste lachen, als sie dieses lächerliche Messer sah, und entspannte sich.

Kaum dass die Gefahr vorüber war, meldeten sich ihre geschundenen Knochen. Shaya hatte das Gefühl, sie könne kein einziges Glied mehr rühren. Erschöpft ließ sie sich gegen den Fels sinken und deutete mit dem Knochenmesser auf das Feuer. »Hol das Murmeltier von dem Stein, bevor es zu Kohle verbrennt.«

Der Junge gaffte sie an, als sei er nicht ganz bei Sinnen. Immer noch troff ihm Blut aus der Nase auf die Brust.