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Shaya winkte mit dem Messer. »Hörst du mich?«

»Du bist ja eine Frau …«, stammelte der Hirte.

»Und du bist ein ausgezeichneter Beobachter. Ich beglückwünsche dich zu deinem Scharfsinn. Und nun nimm das Murmeltier aus den Flammen!«

Er gaffte sie noch immer an, und Shaya fiel auf, dass er ihr nicht ins Gesicht sah. Sie tastete nach ihrer Tunika. Der Saum am Halsausschnitt war tief eingerissen und gewährte vermutlich beste Einblicke.

»Wer bist du?«

»Wie du schon sagtest, eine Frau. Und ich hasse Feuerpriester, die unschuldige Murmeltiere zu Asche verbrennen.«

Der Junge runzelte die Stirn, dann begriff er. Mit zwei dünnen Stöcken hob er das hagere Tier von dem heißen Stein.

»Hierhin!« Shaya deutete auf die Decke, die sie vom Boden aufgehoben und sich über den Schoß gezogen hatte.

»Das ist nicht sauber …«

»Egal!«

Der Hirte gehorchte. Er erweckte nicht den Eindruck, als wolle er sie noch einmal angreifen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, tastete Shaya nach dem Wasserschlauch, zog den hölzernen Stöpsel und trank in gierigen, tiefen Schlucken.

»Wo ist deine Lederschlinge?«, fragte sie und verschloss den Wasserschlauch sorgfältig.

Der Junge glotze sie weiterhin an.

»Erzähl mir nicht, dass das Murmeltier sich vor lauter Zuvorkommenheit in dein Knochenmesser gestürzt hat. Wo ist deine Schleuder? Zeig sie mir, oder ich brat dich auf dem heißen Stein.«

Er machte ein Gesicht, als würde er ihr das tatsächlich zutrauen. Hastig griff er hinter seinen Rücken und löste die Lederschlinge von dem ausgefransten Stoffstreifen, der ihm als Gürtel diente. Er warf ihr die Schleuder vor die Füße.

»Auch den Beutel mit den Steinen«, befahl sie und tastete mit spitzen Fingern nach dem Murmeltier.

Er gehorchte und warf ihr einen dunklen Lederbeutel vor die Füße.

»Hast du noch irgendwelche anderen Waffen?«

Er nickte in Richtung eines langen Steckens, der nicht weit von ihr am Felsen lehnte.

»Und Hunde? Wo stecken die Köter?«

»Ich hab keine Hunde. Ich hab nur siebzehn Ziegen zu hüten. Da braucht man keine Hunde.«

Shaya sah ihn misstrauisch an. Seine Lippen und das Kinn waren von geronnenem Blut verschmiert. Er sah ziemlich erbärmlich und harmlos aus. Nicht wie ein Lügner. Außerdem hätten die Hunde sie ganz sicher weiter oben am Hang gestellt. Sie hätten nicht einfach zugesehen, wie sie zum Lager ihres Herrn hinabspazierte.

»Wie komme ich in das Tal, in dem das Haus des Himmels steht?«

»Von hier aus?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Gar nicht. Du müsstest eine ziemlich steile Felswand erklimmen, und du siehst nicht so aus, als würdest du das schaffen.«

»Ach«, entgegnete sie schnippisch. »Das Bürschchen hat sich also mehr als nur meine Titten angesehen. Wonach schau ich denn aus?«

»Wie eine Frau, die ziemlich durchgeprügelt wurde.«

Shaya biss in den Murmeltierbraten und genoss den Geschmack des Fetts, das aus dem heißen Fleisch troff. Köstlich! Vorsichtig begann sie zu kauen.

»Was machst du hier?«

»Bären jagen«, antwortete sie zwischen zwei Bissen und spuckte einen Knochensplitter aus.

Der Junge sah sie beleidigt an. Ihr war klar, dass sie ganz und gar nicht wie eine Jägerin aussah. So ganz ohne Waffen, ohne Schuhe und nur mit einer Tunika bekleidet, die in Fetzen hing.

»Was machst du hier?«, wiederholte der Junge.

Shaya schnaubte. Ihr war klar, dass man als Hirte keinen sonderlich hellen Kopf brauchte, aber dieser hier schien besonders dämlich zu sein. »Ich gehe große, schwarze, übellaunige, ziegenfressende Bären jagen.« Sie hatte das Murmeltier verspeist und immer noch Hunger.

»Den Ochsenbeißer?«

»Euer Bär hat einen Namen?«

Der Junge nickte eifrig. »Ja, er hat vor vier Jahren den einzigen Ochsen weit und breit gerissen. Sonst frisst er nur Ziegen und … Einmal hat er auch einen Hirten erwischt. Alle gehen ihm aus dem Weg. Ist ein übler Bursche, dieser Bär.«

»Jetzt nicht mehr«, entgegnete Shaya knapp und betrachtete die Schuhe des Jungen. Es waren einfache Sandalen, ziemlich abgetragen. Sie hatten ungefähr ihre Größe. Sie deutete mit dem Knochendolch auf seine Füße. »Ausziehen.«

Der Knabe gehorchte stumm. Wenn er barfuß war, würde er vielleicht nicht davonlaufen. Sie war zu Tode erschöpft und könnte nicht mehr weitergehen. Sie musste ein paar Stunden schlafen. »Wie weit ist denn der Weg von hier bis zu diesem Weiberkloster?«

»Da darfst du nicht hin. Da gibt es nur Frauen von hoher Geburt. Und manchmal besucht der Unsterbliche das Tal. Seine Bräute gehen dorthin«, erklärte der Kleine ehrfürchtig.

»Sehe ich aus, als würde ich mich darum scheren, was erlaubt ist?«

Er musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Dann schüttelte er den Kopf.

»Also, wie weit ist es dorthin?«

Er zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Ich war ja noch nie da. Aber es sollte mehr als ein Tagesmarsch sein. Man muss über ziemlich steile Felsen klettern. Es gibt keinen richtigen Weg. Es ist ja verboten, dorthin zu gehen.«

Shaya überschlug ihre Lage. Wenn der Junge nicht log, würde es also mindestens einen Tag dauern, bis hier im Tal Verfolger erschienen. Eher länger. Schließlich mussten die Priesterinnen nach Handlangern und Hunden schicken, die vermutlich durch das verwunschene Portal kämen. Und dann mussten ihre Häscher erst einmal ihre Fährte aufnehmen. Sosehr ihr der Regen zu schaffen gemacht hatte, rückblickend hatte er auch sein Gutes. Selbst Bluthunde würden kaum noch Spuren finden.

Sollten ihre Häscher aber wirklich zu der Stelle gelangen, an der sie abgestürzt war, hätten sie ein Problem: Niemand, der seinen Verstand beisammenhatte, sprang dort hinab. Vielleicht hatte sie sogar Glück, und sie sahen den Kadaver des Bären. Dann glaubten sie vielleicht, ihre Hunde seien Ochsenbeißer gefolgt, statt ihr. Shaya entschied, dass sie es sich leisten konnte, ein oder zwei Stunden zu schlafen.

»Leg dich auf den Bauch!«, fuhr sie den Jungen an.

Der glotzte nur.

»Was ist daran nicht zu verstehen?« Sie schob sich mit dem Rücken am Felsen hoch und deutete mit dem Knochendolch auf seine Brust. »Sehe ich sehr geduldig aus?«

Zögernd legte er sich hin.

»Jetzt winkle deine Beine an und greife mit den Händen nach den Fußgelenken.«

Diesmal gehorchte er sofort. Sie kniete sich neben ihn, schlang den Lederriemen seiner Schleuder um Fuß- und Handgelenke und zog sie stramm. Dem Kleinen würde zwar eine ungemütliche Zeit bevorstehen, aber auf diese Art gefesselt, konnte er nicht entkommen. Allenfalls würde er ein paar Schritt weit robben können.

»Du hast ziemlich laut geredet, als du den Hang runterkamst«, sagte der Junge nach einer Weile.

Shaya hatte sich in die Decke gerollt und neben das Feuer gelegt. Sie entschied, den Kleinen zu ignorieren.

»Du hast die Geflügelte Išta gelästert. Hast du keine Angst, dass sie kommen wird, um dich zu holen?«

Daran hatte sie bisher gar nicht gedacht. Išta würde niemals dulden, dass sie zu Aaron zurückkehrte. Wie lange würde es dauern, bis sie kam? Wusste sie schon von der Flucht?

»Du bist die Prinzessin aus dem Haus des Himmels, nicht wahr?«

»Wie kommst du darauf?« Shaya bemühte sich, gleichgütig und schläfrig zu klingen.

»Nur eine Prinzessin käme auf die Idee, barfuß durch die Berge zu flüchten.«

Jetzt musste sie schmunzeln. Der Kleine war also doch nicht so dumm. Auch wenn er ganz sicher überrascht wäre, wenn er wüsste, was für eine Sorte Prinzessin sie war. Wieder musste sie an Išta denken. Wie entkam man einer Göttin? Darauf gab es nur eine Antwort: gar nicht!

Shaya wurde sich schmerzlich bewusst, dass sie ihre Flucht nie wirklich bis zum Ende durchdacht hatte. Es war immer nur darum gegangen, aus dem Haus des Himmels, ihrem Kloster, zu entkommen, die Berge hinter sich zu lassen und nicht von den Häschern gestellt zu werden, die Tabitha, die Mutter der Mütter, hinter ihr herschicken würde. All das mochte ihr gelingen. Aber einer Göttin zu entfliehen, das war unmöglich! Und Išta würde die Verfolgung aufnehmen, denn sie, Shaya, war Bestandteil ihrer Rache an Aaron, der den Unsterblichen Muwatta gedemütigt hatte. Išta würde jeden aufspüren, dem sie auf ihrer Flucht begegnet war. Und ihr ein angebranntes Murmeltier nicht als Mahl verweigert zu haben, mochte schon als Grund für ein Todesurteil genügen. Die Geflügelte war rachsüchtig.