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Mit gesenkten Lidern betrachtete Shaya den jungen Hirten, der schnaufend gegen seine Fesseln ankämpfte und nur erreichte, dass ihm die Lederriemen immer tiefer ins Fleisch schnitten. Es lag bei ihr, ob der Junge sterben würde.

Shaya begann zu erahnen, welche Last auf Aarons Schultern lag. Sie zweifelte nicht daran, dass er sich immer noch nach ihr sehnte. Doch dieser Sehnsucht nachzugeben bedeutete auch, Tausende Tode in Kauf zu nehmen, wenn er die Götter gegen sich aufbrachte. Zu erwarten, von ihm gerettet zu werden, war überaus selbstsüchtig. Sie konnte sich ja nicht einmal selbst retten.

Und würde sie ihn noch lieben, wenn sie wüsste, dass er kaltblütig den Tod Unschuldiger in Kauf nahm, um wieder mit ihr vereint zu sein? Wieder betrachtete Shaya den Jungen. Išta würde ihm einen langen, grausamen Tod schenken. Nein, sie würde ihm das ersparen, entschied die Prinzessin. Es war an der Zeit, harte Entscheidungen zu treffen.

Der Tag der Skorpione

Eleborn stieg über einen mit handtellergroßen Saugnäpfen besetzten Fangarm hinweg und balancierte bis zum äußersten Ende des goldbeschlagenen Ankerholzes. Es war eine von Dutzenden Streben, die seitlich aus dem Turm ragten. Der Wind spielte mit seinem offenen Haar. Es war ein wunderschöner Morgen. Blau und Rosa kämpften am östlichen Horizont um die Vorherrschaft, während im Westen, über den Wäldern, die letzten Regenwolken der Nacht gleich grauen Festungen thronten.

Das Goldblech war mit Gallert überzogen. Jeder Schritt an dem windigen Morgen war ein Risiko. Doch Eleborn liebte Risiken und den unvergleichlichen Ausblick auf die umliegenden Dächer. Und er liebte die Sinfonie aus Licht, mit der ihn jeder Sonnenaufgang hier auf dem hohen Ankerturm beschenkte. Der Elf merkte, wie sein Balanceakt von einigen neugierigen Wolkenschiffern beobachtet wurde, deren Schiff über Nacht angelegt hatte. Auf einem dieser Wolkensammler zu reisen wäre sicher eine unvergessliche Erfahrung. Tausend Fuß über dem Boden durch die Takelage zu klettern, ganz den Elementen ausgeliefert.

Eleborn drehte sein Gesicht der Sonne entgegen und genoss die sanfte Wärme. Mit leisem Schmatzen wanden sich die Tentakel am Ankerholz. Die riesige Kreatur über ihm drehte sich mit dem Wind und schob sich vor die Sonne. Fasziniert beobachtete der Elf den Tanz der Tentakel. Währenddessen wurden unablässig Waren von den Decks des Wolkenschiffes abgeseilt. Die Männer über ihm, die die langen Hölzer der Lastspiels drehten, sangen ein eintöniges Lied und stampften dazu mit den Füßen.

Netze voller Amphoren und praller Säcke senkten sich dem Boden entgegen, wo sie von Lastenträgern geöffnet wurden, die die Frachtgüter zu markierten Arealen auf dem von hohen Mauern umschlossenen Gildenhof trugen. Die Lagerplätze bei den Ankertürmen waren begehrt und teuer. Das überraschende Beben hatte etliche der Bauten in Mitleidenschaft gezogen. Ein Drittel der Türme war ausgefallen, sodass viele Wolkenschiffe draußen über dem Dschungel warteten, wo sie einen Königsbaum gefunden hatten, dessen Äste und Wurzeln stark genug waren, um einen der Himmelsgiganten auch bei stürmischer Brise sicher an seinem Platz zu halten. Sobald die Ladung gelöscht wäre, würde eines jener Schiffe den begehrten Ankerplatz übernehmen.

Eleborn ließ den Blick vom weiten Horizont zum Tempelgarten der Zapote wandern. Der Ankerturm stand kaum hundert Schritt vom hinteren Abschnitt des Gartens entfernt. Etliche Tage hatte er die über drei Terrassen ausgedehnte Anlage aus Gärten, Stufenpyramiden und weitläufigen Palastanlagen nun schon beobachtet. Er wollte herausfinden, was dort unten vor sich ging. Inzwischen wusste er, dass die blonden Gefangenen in kleinen, zweigeschossigen Häusern weit hinten in den Gärten untergebracht waren. Sie schienen sich frei bewegen zu dürfen. Nur der Weg zurück durch das große, weiße Tor am Eingang der Tempelstadt war ihnen offensichtlich verboten.

Anfangs hatte Eleborn gehofft, Volodi vom Ankerturm aus erkennen zu können. Aber das dichte Laubdach, das sich über viele der Gartenwege wölbte, behinderte die Sicht. Auch sahen die blonden Männer dort unten – auf Entfernung von mehr als vierhundert Schritt – fast alle gleich aus: Sie alle waren hochgewachsen und muskulös, Krieger oder auch Bauern und Jäger. Männer, deren vorangegangenes Leben zu hart gewesen war, um Fett anzusetzen.

Der Elf wusste, dass er, gemessen an diesen Muskelpaketen, das reinste Gerippe war. Er war zwar zäh und ausdauernd, aber darauf schien es nicht anzukommen. War er zu schlank, um als ein Opfer für die Schlange angenommen zu werden? Gestern hatte er sich auf einem der zahllosen Marktplätze der Stadt mit einem rotbraunen Saft bemalen lassen. Muster aus kleinen Dreiecken und Halbkreisen rankten sich nun um seine Brust, seine Arme und Beine. Sie erinnerten ihn ein wenig an die Bilder, die sich manche Maurawan mit Bandag auf ihre Körper malten. Eleborn hatte sich für diesen Schmuck entschieden, um einerseits wilder und barbarischer zu erscheinen, aber auch, um von der hellen Farbe seiner Haut abzulenken. Zöpfe an seinen Schläfen und ein mit Knochen und Zähnen geschmückter Brustgurt für sein langes Schwert rundeten seine neue Erscheinung ab.

Was wäre wohl, wenn er so in die Weiße Halle marschieren würde? Ob ihn noch jemand wiedererkennen würde? Er grinste. Wohl kaum. Es war vielleicht die richtige Aufmachung, um eine Maurawani zu verführen, jene halbwilden Elfen, die hoch im Norden in den Wäldern im Schatten des Albenhaupts lebten und von denen es hieß, dass sie sich manchmal mit Wölfen paarten. Aber unter den kultivierten Damen Arkadiens würde solcher Hautschmuck nur Entsetzen auslösen. Er schob die Gedanken an seine Heimat von sich und blickte wieder auf den weiten Park. Vielleicht würde er Volodi ja doch noch entdecken.

Bis zur Mittagsstunde blieb Eleborn auf seinem Beobachtungsposten. Die Tempelgärten waren wirklich wunderschön: ein Blütenmeer in allen Farben des Regenbogens. Seltsam, dass die Priester, in deren Auftrag all dies entstanden war, einen so grausamen Gott wie die Gefiederte Schlange verehrten.

Der Elf richtete sich auf und lockerte seine verspannten Muskeln. Alles, was aus der Ferne herauszufinden war, wusste er nun. Wenn er Volodi finden wollte, dann musste er näher heran. Entschlossen stieg er über die Tentakel hinweg und balancierte über das glitschige Ankerholz, bis er die steinerne Treppe erreichte, die sich in weiten Spiralen die Außenwand des Turmes hinabwand.

Auf dem ersten Treppenabsatz begegnete er Usia, dem Frachtmeister dieses Turms. Der Alte war ein halbes Leben auf den Wolkenschiffen gesegelt, bis ihm eine zerbrochene Rah die rechte Hand zerquetscht hatte. Statt sich in sein Schicksal zu ergeben und sich in die Heerschar der Bettler einzureihen, die die Straßen der Goldenen Stadt bevölkerte, hatte er Lesen und Schreiben gelernt. Auf seinem Stumpf saß eine Ledermanschette, in der die Spitze eines Griffels steckte, mit der er Schriftzeichen in Tafeln aus frischem Lehm presste, die dann ein junger Gehilfe in einem großen Holzkasten verwahrte. Usias Aufgabe war es, jedes Frachtstück, das gelöscht wurde, zu verzeichnen.

»Heute gehst du aber früh.« Der Alte zwinkerte ihm freundlich zu. »Ist es dir doch langweilig geworden, Grünzeug anzustarren?«

»Ich habe entschieden, mich auf das Anstarren hübscher Mädchen zu verlegen«, entgegnete Eleborn verschmitzt grinsend. Er war froh, sich endlich zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben.

»Mädchen gibt es hier bedeutend weniger als schöne Blüten. Meist braucht man eine prall gefüllte Börse, um auch nur welche zu Gesicht zu bekommen. Wenn du bis Sonnenuntergang wartest, werde ich dir zeigen, wo meine Jagdgründe liegen.«

»Ich fürchte, Graubart, was du noch als junge Mädchen durchgehen lässt, sind Damen, die das Alter meiner Großmutter überschritten haben. Aber sollte ich bis Sonnenuntergang noch nicht fündig geworden sein, komme ich vielleicht noch mal her.«