Natürlich nicht! Gab es unter den Menschenkindern denn keine Tabus? Aßen sie alles, was kreuchte und fleuchte? Er zog die Stiefel an, griff nach seinem Schwertgurt, trat an den Wollvorhang und sah hinaus. Es war Nacht. Der Regen wob silberne Schleier ins Dunkel und erstickte alle Geräusche.
Izel trat hinter ihn und schmiegte sich an seinen Rücken. Ihre Arme umfingen ihn, ihre Finger tasteten nach seinen Brustwarzen, und sie hauchte ihm ins Ohr, dass sie ihn allen Hunger vergessen lassen könnte. Ein wohliger Schauer ließ Eleborn erzittern. Sie wusste, was sie tat.
Er zog den Vorhang mit Schwung zur Seite und trat unter das Vordach. Izel ließ ihn los. Leichtfüßig eilte sie zur Wand, an der sie ihren Federumhang aufgehängt hatte. Sie warf ihn über ihre Schultern, wickelte das Seidentuch um ihre Lenden und war binnen weniger Augenblicke wieder an seiner Seite. Sollte er sie verärgert haben, ließ sie sich nichts anmerken. Sie stellte sich vor ihm auf die Zehenspitzen, gab ihm einen flüchtigen Kuss und schenkte ihm ihr hinreißendstes Lächeln. »Stärken wir uns, mein hungriger Wolf. Und dann werde ich dich noch einige der Geheimnisse im Spiel zwischen Männern und Frauen lehren.«
Eleborn musste lachen. Wahrscheinlich war er viermal so alt wie sie. Dennoch zweifelte er nicht daran, dass sie recht hatte. In Liebesdingen war er unerfahren. Sie würde ihn auch gegen seinen Willen dazu bringen, ihr in die Tempelstadt der Zapote zu folgen. Diese eine Nacht würde er noch bleiben … länger nicht! Wenn er schon dieser Frau ausgeliefert war, wie würde es im Tempel werden? Erneut wurde ihm klar, wie vermessen sein ursprünglicher Plan gewesen war, sich verführen und in die Tempelstadt bringen zu lassen. Der Plan eines Narren! Allein würde er dort nichts erreichen. Doch dann lächelte er leichthin – drohende Todesgefahr hatte ihn nie von etwas abhalten können. Wahrscheinlich war er deshalb ein Drachenelf geworden.
Als Izel sich bei ihm unterhakte und »Komm, gehen wir« sagte, wusste er, dass seine Entscheidung gefallen war. Aufzugeben und zu fliehen war von nun an unmöglich.
Sie stiegen die kurze Leiter der Pfahlhütte hinab, und Eleborn versank augenblicklich bis zu den Waden in gelbem Schlamm und Regenwasser. Der Weg hatte sich in einen kleinen Sturzbach verwandelt. Da nirgends ein Licht brannte und die beiden Monde sich hinter den Wolken verbargen, war die Finsternis fast absolut.
Izel hob ihren Federmantel hoch, sodass er darunter vor dem Nass von oben Zuflucht fand. »Ich kenne eine Garstube, in der niemals die Feuer gelöscht werden und wo man zu jeder Stunde des Tages etwas zu essen bekommt. Und nicht nur Hund. Wir müssen den Hang hinauf.«
Eleborn fragte sich, ob diese Garstube diesseits oder jenseits des Weißen Tors der Tempelstadt lag.
Die Gärten der Tempelstadt
Nodon wischte sich den zähen Schleim von der Wange, der von einem der Fangarme über ihm getropft war. Fast den ganzen Tag saß er nun schon auf dem goldbeschlagenen Balken des Ankerturms und betrachtete die weitläufigen Gärten der Tempelstadt. Es regnete ununterbrochen, doch der gewaltige, aufgedunsene Körper des Wolkensammlers sorgte dafür, dass er im Trockenen war. Über hundert Schritt musste die Kreatur lang sein, die sich mit ihren Tentakeln am Ankerturm festklammerte, während die Fracht des Schiffes gelöscht wurde, das mit Seilen unter ihrem Bauch festgezurrt war.
Nodon verabscheute diese Wesen. Ihnen fehlte jede Eleganz. Doch heute hatte er kaum einen Blick für das Ungeheuer über seinem Kopf. Er wollte sich ein Bild von den Vorgängen in der Tempelanlage machen. Anders als seine Gefährten suchte er nicht in den Tempelarchiven nach Hinweisen auf das, was sie im Krater erwartete. Das hielt er für Zeitverschwendung.
Zu den wirklichen Geheimnissen würde man Fremde nicht vordringen lassen. Gestern noch hatten Nandalee, Lyvianne und Bidayn darüber geklagt, dass sie endlose Frachtlisten eingesehen hatten, Berichte über Tempelfeste und manchmal – wenn sie Glück hatten – ein paar Zeilen über den Kampf gegen die Grünen Geister. Es schien, dass die Devanthar etwas im Weltenmund errichtet hatten, das die Geister tötete. Aber die Angaben dazu waren so vage, dass man sich kein Bild davon machen konnte, was das genau sein mochte. Ein Zauber? Irgendeine Kreatur, ähnlich den silbernen Löwen, die sie erschaffen hatten? Würde diese Waffe auch gegen Albenkinder wirken? All dies blieb ungewiss.
Einzig Gonvalon schien einen guten Weg gefunden zu haben, an einige nützliche Informationen heranzukommen. Mithilfe einer tolldreisten Verkleidung hatte er sich Zutritt zu allen Archiven des Tempels der Geflügelten Sonne verschafft. Doch auch er war den Geheimnissen des Weltenmundes bisher nicht näher gekommen.
Nodon hatte entschieden, sich unter den Wolkenschiffern umzuhören. Es hieß, deren Lotsen kannten diese Welt so gut wie niemand sonst, doch zu ihrem Treffen – sie versammelten sich in einem roten Zelt auf einem Frachthof unter einem der Ankertürme – hatte er nicht vordringen können. Allein schon auf diesen Turm zu kommen hatte ihn viel gutes Zureden und einen kleinen Silberbarren gekostet.
Die Menschenkinder waren misstrauisch. Das Beben, das die Stadt erschüttert hatte, hatte Angst in ihre Herzen gepflanzt.
Der trübe Tag glitt in graue Dämmerung. Der westliche Horizont färbte sich in schwefliges Gelb. Ein Gewitter zog über den weiten Wald jenseits des Flusses. Es war an der Zeit zu gehen. Nodon hatte von Kreaturen gehört, die nicht Mensch noch Tier waren: Jaguarmänner, die über den Garten wachten. Er wusste nicht, ob das nur wilde Schenkengerüchte waren oder ob es stimmte. Auf jeden Fall hatte er zweimal schattenhafte Gestalten durch die Gärten schleichen sehen. Sie hatten sich geschickt bewegt, waren mit dem Dunkel unter den Bäumen verschmolzen. Einfach bei Nacht über die Mauer der Tempelstadt zu steigen war ganz gewiss keine gute Idee. Diese Wächter waren geschickt. Sie mochten gefährlich werden.
»He, Roter. Meine Schicht ist zu Ende. Du musst jetzt gehen.«
Nodon drehte sich zu dem alten Menschensohn um, der auf der Treppe des Turms stand und zu ihm aufsah. Ihm hatte er sein Bestechungsgeld gezahlt. Der Alte hatte ihn gewarnt, dass er nicht länger als bis Sonnenuntergang bleiben könne.
»Ich komme.« Nodon stieg über die Tentakel weg, die sich nah am Turm um das Goldblech wanden.
»Hast du Lust, mit einem alten Fahrensmann einen Krug Wein zu teilen?« Der Frachtmeister grinste ihn durch seinen grauen Bart an. »Schließlich hast du den Krug ja bezahlt.« Bei diesen Worten klopfte er mit seinem Armstumpf auf die Börse an seinem Gürtel. »Da ist es nur recht, wenn du auch was davon hast.«
Nodon war nicht in der Stimmung zu plaudern. In einer Stunde sollte er im Haus der Seidenen sein. Jeden dritten Abend versammelten sie sich dort, um zu berichten, was sie über den Krater herausgefunden hatten. Bisher war fast nichts bei ihrer Suche herumgekommen.
Usia stieg vor ihm die Treppe hinab. Für einen alten Mann wirkte er rüstig. »Ich versteh nicht, warum ihr euch alle so für die Gärten der Zapote interessiert. Das ist ein verfluchter Ort. Wer durch das Weiße Tor geht, kommt nicht mehr wieder.«
»Wer interessiert sich denn noch dafür?«
Usia hielt inne und drehte sich zu ihm um. »Dieses Spiel geht anders, mein Junge. Du warst recht einsilbig, als ich dich heute Morgen gefragt habe, warum du auf den Ankerturm hinaufwillst. Sag du mir, was so interessant an den Gärten der Tempelstadt ist, und dann erzähle ich dir, wer so wie du ganze Tage auf einem Balken gesessen hat.«
Nodon hatte damit gerechnet, dass so eine Frage kommen würde, und sich eine Geschichte über einen Freund zurechtgelegt, der verschwunden war, nachdem er Streit mit einem Händler aus Zapote angefangen hatte.
Inzwischen hatten sie den Fuß des Turms erreicht. »Dein Freund war aber nicht zufällig so ein schlanker, blonder Kerl mit Schläfenzöpfen. Hat sich am Ende von Kopf bis Fuß mit rotbraunen Mustern bemalen lassen. Sah schrecklich aus.«
»Bandag«, murmelte Nodon. Zu seiner Zeit in der Weißen Halle hatte es einen Schüler aus dem Volk der Maurawan gegeben. Manchmal hatte er sich bemalt und war ganze Nächte lang in die Wälder verschwunden.