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»Hast du einmal von den Geisterhainen in Drusna gehört, Usia?«

Der Frachtmeister schüttelte den Kopf. Er bemühte sich zwar noch um eine grimmige Grimasse, aber Nodon konnte sehen, dass Usias Interesse geweckt war. Die Menschenkinder waren seltsam. Obwohl sie hier auf Nangog täglich mit der konkreten Bedrohung durch die Grünen Geister lebten, liebten sie Geschichten über solche Geschöpfe.

»Dann hör zu … Die Geisterhaine sind Orte, in denen seltsame Bäume wachsen. Wir hängen Windspiele in ihre Äste und die Waffen und Helme unserer toten Helden. Wenn ein Schwert gegen einen alten Bronzehelm stößt, gibt es einen dunklen, schwingenden Ton. Und wenn der Wind durch die Äste fährt, die Blätter rauschen und die Helme wie Totenglocken klingen, dann sind uns unsere verstorbenen Ahnen nahe. Manche von ihnen gehen nicht an den Ort, der den Toten bestimmt ist. Sie bleiben in den Wäldern und beobachten uns. In den Geisterhainen tragen der Wind, die Blätter und die Glocken ihre Stimmen zu uns.«

»Wohin gehen eure Toten, wenn sie den rechten Pfad gefunden haben?«

Die Frage überraschte Nodon, damit hatte er nicht gerechnet. »Goldene Hallen«, sagte er hastig und hoffte, dass Usia nicht schon andere Geschichten über Drusna gehört hatte. »In meiner Provinz, hoch im Norden, glauben wir daran, dass die toten Krieger sich in Goldenen Hallen versammeln, wo sie gemeinsam zechen, essen und bis ans Ende aller Zeiten mit ihren Heldentaten prahlen.«

Die harten Züge des Frachtmeisters entspannten sich. »Besser, ein Drusnier zu sein als ein Luwier. Die glauben, die Seelen der Toten fahren in ein finsteres Loch tief unter der Erde.« Usia deutete zur rußgeschwärzten Gewölbedecke. »So finster ist es dort. Und es gibt kein Entrinnen bis ans Ende aller Zeiten. Wie heißt du eigentlich?«

»Lassen wir es bei Roter. Mein Name ist in meiner Heimat fluchbeladen. Es ist besser, wenn du ihn nicht kennst.«

Rabal trat an ihren Tisch und stellte vor dem Frachtmeister eine Schale mit verkochtem Reis und dicken roten Bohnen ab, die in einer zähen Soße schwammen. »Der Wein kommt gleich. Hatte noch nicht die Zeit, in meinen weitläufigen Keller zu steigen, um das Siegel meiner edelsten Amphore zu brechen.«

Nodon sah dem Wirt verblüfft nach.

»Er macht Witze. Natürlich hat er keinen Weinkeller«, erklärte Usia, während er mit einem Holzlöffel rote Bohnen in sich hineinstopfte. »Und jetzt erzählst du mir, warum du verflucht bist. Schön ausschweifend. Nichts regt die Verdauung so sehr an wie eine gute Geschichte.« Er grinste, während ihm Soße vom Bart troff. »Jedenfalls, wenn man erst einmal mein Alter erreicht hat. Und nun zieh deine Kapuze zurück. Ich will endlich deine Augen sehen. Wenn ich einem Mann in die Augen blicke, sehe ich jede Lüge.«

»Während du isst?«

»Mach hin!«

Nodon sah sich um. Die anderen Gäste beobachteten sie noch immer – mehr oder weniger unverhohlen. Er drehte den Kopf so, dass ihn nur Usia sehen konnte. Dann zeigte er sein Gesicht.

Der Frachtmeister starrte ihn mit offenem Mund an, sodass die halb zerkauten Bohnen deutlich zu sehen waren. »Das …« Er verschluckte sich, hustete, und ein Schwall Bohnenstücke flog über den Tisch. »Was bist du? Versteck sie wieder! Ich will deine Augen nie mehr sehen!«

Nodon zog die Kapuze nach vorne und verbarg sein Antlitz wieder. Selbst Albenkinder, die ihn gut kannten, erschreckte der Anblick seiner Augen, die nur aus schwarzen Pupillen zu bestehen schienen. Es gab kein Weiß, keine bunte Iris. Nur Schwarz.

»Ich hatte dich gewarnt, Usia.«

Der Frachtmeister murrte etwas und starrte ihn an. »Was bist du?« Jetzt lag ein drohender Unterton in seiner Stimme.

Nodon war wenig beeindruckt. Selbst wenn sich all die traurigen Gestalten einschließlich des Wirts auf ihn stürzen sollten, würde er wohl kaum in Gefahr geraten. Aber er wollte kein Aufsehen erregen. »Ich sagte doch, ich bin verflucht. Als Kind hatte ich schöne, himmelblaue Augen. Doch dann stachelten meine Freunde mich zu einer Mutprobe auf. Ich schlich in einer stürmischen Nacht in den Geisterhain, der tief im Wald lag. Ich war fast verrückt vor Angst. Als Blitze in die Bäume um mich herum einschlugen, begann ich zu laufen. Ich übersah eine Wurzel, stürzte schwer und habe mir derart den Fuß verstaucht, dass ich nur noch kriechen konnte. In unseren Wäldern gibt es Wölfe. Einer von ihnen fand mich. Er merkte sofort, dass ich leichte Beute war, aber allein griff er nicht an. Stattdessen stimmte er ein unheimliches Geheul an. In diesem Augenblick hörte ich die Stimme meines toten Onkels in den rauschenden Blättern. Der Sturmwind zerrte an den Ästen. Die alten Schwerter klirrten, und immer wenn ein Blitz niederging, sah ich den Wolf zwischen den Bäumen. Ein großes, hageres Biest mit struppigem Fell. Er hatte nur noch ein Ohr. Seine Schnauze war voller Narben und seine Augen so blau wie die meinen. Mein Onkel sagte, er wolle mir helfen. Ich sollte den Mund weit öffnen und an ihn denken, so wie ich ihn zuletzt beim Mittwinterfest gesehen hatte. Ein paar Tage später war er im Wald ermordet worden. Man fand nie heraus, wer es gewesen ist.«

»Schmeckt dir mein Essen nicht mehr?« Rabal knallte einen Krug Wein und zwei angeschlagene Tonbecher auf den Tisch.

»Alles gut.« Usia wischte Bohnen und Reis von der schmutzigen Holzplatte. »Alten Männern fällt schon mal was aus dem Mund. Das kennst du doch.«

»Ich habe noch all meine Zähne. Ich bin kein alter Mann«, entgegnete Rabal brüskiert und ging wieder.

»Du hast also den Geist deines Onkels in den Bäumen gehört. Und dann?«, fragte Usia drängend.

»Eines der Bronzeschwerter stürzte aus dem Geäst. Es fiel direkt neben mir zu Boden. Ich war wie erstarrt, doch der Geist bedrängte mich, es zu nehmen und endlich meinen Mund aufzumachen. Ich hatte entsetzliche Angst. Er wollte in mich fahren, weißt du? Jedes Kind in Drusna kennt diese Geschichten. Dann fuhr ein Blitz nieder, und ich sah, dass jetzt drei Wölfe da waren. In dem Moment habe ich meinen Mund so weit aufgerissen, wie ich konnte … Seitdem geschehen manchmal Dinge, die ich angeblich getan habe, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Angefangen hat es in jener Nacht.

Als ich am nächsten Morgen gefunden wurde, hielt ich das blutige Schwert meines Onkels in der Hand. Später entdeckte der Priester des Geisterhains zweiWölfe, die sich tödlich verletzt davongeschleppt hatten. Dazu musst du wissen, dass man meinen Onkel ohne sein Schwert in den Bäumen bestattet hatte. Es war nie gefunden worden. Auch meine Augen hatten sich verändert. Seit jener Nacht sehen sie so aus wie jetzt.«

Usia schenkte zwei Becher ein. »Gute Geschichte. Lass uns darauf anstoßen.«

Nodon nippte zögernd am Wein. Er war mit Honig gepanscht worden.

»Und wegen dieser Sache und deinen Augen hat man dich verstoßen?«

»Verstoßen wurde ich wegen der drei Toten.«

»Welcher Toten? Heraus damit. Ich kann es nicht leiden, wenn man anderen die Geschichten Brocken für Brocken aus der Nase ziehen muss.«

»Fünf Jahre später war ich auf einem Fest im Nachbardorf. Ich geriet in Streit mit drei Männern. Einer von ihnen trug die Brosche meines Onkels an seinem Umhang. Ein unverwechselbares Stück: Sie sah aus wie ein Bär. Wieder kann ich mich nicht genau erinnern, was geschehen ist. Angeblich habe ich alle drei mit einem abgebrochenen Ast erschlagen. Ich wurde als Mörder vor unseren Fürsten gebracht. Meine ganze Sippe glaubte mir und unterstützte mich, aber die Frau des Toten mit der Brosche behauptete, er habe sie am Markttag von einem fliegenden Händler gekauft. Mein Volk legt großen Wert darauf, in Frieden mit seinen Geistern zu leben. Deshalb wurde ich nicht hingerichtet, aber mein Urteil lautete auf Verbannung. Ich war vierzehn. Seitdem verdinge ich mich als Söldner, und mir eilt ein gewisser Ruf voraus.«

Usia pfiff leise zwischen den Zähnen. »Das nenne ich mal eine Geschichte. Also wenn ich deine Augen nicht gesehen hätte, würde ich dir kein Wort glauben.« Er hob seinen Becher. »Auf alle kleinen Jungen, denen Unrecht widerfahren ist.«