Nodon fragte sich, ob der Alte das ironisch meinte, prostete ihm aber dennoch zu. »Nun bist du mit einer Geschichte dran. Bist du jemals über den Weltenmund geflogen? Was kann man dort sehen? Gibt es dort einen Tempel?«
»Das sind ziemlich viele Fragen, Junge.« Usia wischte mit einem Finger durch die Holzschale und leckte die Soße ab. »Ich bin nur einmal, zufällig, über den Weltenmund geflogen. Die Unsterblichen haben es nämlich verboten. Aber manchmal, bei ungünstigem Wind, wird einer der Wolkensammler abgetrieben, wenn er ankern will. Als ich über dem Weltenmund war, habe ich nichts als Nebel im Krater gesehen. Aber es gibt natürlich Geschichten. Es soll dort Ruinen geben.« Der Alte blickte zu den Nachbartischen und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Und einen geheimen Tempel.«
Nodon war enttäuscht. »Das ist alles?«
»So ist das eben bei Geheimnissen. Sie sind geheim.«
»Und niemand weiß, wie es unten im Krater aussieht?«
»Es gibt kein Unten im Krater. Er führt hinab ins Herz der Welt. Es ist ein unermesslich tiefes, dunkles Loch.« Usia schenkte sich nach. »Eine Sache ist da noch. Die habe ich von einem Lotsen erfahren. Er will einen Wald aus rotem Bambus gesehen haben. Aber ganz ohne Blätter. Nur die Bambusrohre. Tausende.«
»Gibt es denn keine Geschichten darüber?«
Der Frachtmeister rülpste. »Der Weinkrug ist leer. Komm stoß mit mir an. Ich mag es nicht, wenn ich alleine trinke.«
Nodon hob den Becher. Er war das Trinken nicht gewöhnt. Schon jetzt spürte er die Wirkung des Weins. Ein Wort der Macht, und das Gift des Alkohols würde aus seinem Blut verbannt werden. Er sah sich vorsichtig um. War er hier sicher? Am Nebentisch saß eine Gruppe bunt gewandeter dunkelhäutiger Männer. Händler vielleicht? Sie sprachen die Zunge Arams und diskutierten lebhaft darüber, wie sich das Beben auf den Handel auswirken würde und ob damit zu rechnen sei, dass die Preise für Weizen und Reis noch weiter stiegen.
»Rabal! Mehr Wein. Noch mal den guten!«
Der Wirt nickte Usia zu.
»Geschichten sind nicht dasselbe wie Augenzeugenberichte. Geschichten gibt es viele. Aber jetzt wirst du mir sagen, warum dich die Gärten der Zapote interessieren.«
»Mich reizte es immer schon, an Orte zu gehen, die man nicht betreten darf.«
Der Frachtmeister stöhnte. »Ach, Junge, das ist einfach nur dumm! Du hast keine Ahnung, worauf du dich da einlässt. Die Zapote haben irgendwelche Ungeheuer aus Menschen und Raubkatzen erschaffen. Sie bewachen den Garten, lauern in den Schatten und würden dich in Fetzen reißen. Vor denen könnte dich nicht einmal der Geist deines Onkels beschützen.«
»Warum beschützen sie die Gärten so gut? Haben sie Gold in den Tempeln?« Natürlich interessierte ihn kein Gold. Er wollte Usia nur aufstacheln, mehr zu erzählen.
»Mit dem Gold auf deinem Kopf wirst du hineingelangen.« Der nächste Weinkrug kam, und der Frachtmeister schenkte sich munter nach. »Sie suchen goldhaarige Männer. Sie locken sie mit hübschen Mädchen, aber wer ihre verfluchte Tempelstadt betritt, der kommt nie wieder zurück.«
»Es gibt immer ein erstes Mal.«
»Du redest schon wie Mikayla. Noch so ein Drusnier. Der ist wie du auf meinen Turm gestiegen und hat sich die Gärten angesehen. Ein schlanker Kerl mit kurzem Bart. Ich mochte ihn. Gestern wollte er sich nach einer der Menschenfängerinnen umschauen.« Usia blickte verdrossen in seinen Weinbecher. »Geben die Götter, dass er keine gefunden hat. Heute ist er nicht mehr gekommen …«
Nodon hätte sich diesen blonden Kerl gerne näher angesehen. Konnte es sein, dass noch andere Elfen hier in der Goldenen Stadt waren? »War irgendetwas auffällig an ihm?«
»Sein verdammtes blondes Haar. Und der Glaube an seine Unbesiegbarkeit. Die Krankheit, an der die meisten jungen Männer sterben. Wenn du da hineinwillst, brauchst du über keine Mauer zu steigen. Such dir eines ihrer Mädchen, die bringt dich dann schon in die Tempelstadt.«
»Hat er gesagt, was er dort wollte?«
»Einen Freund suchen, der vielleicht dorthin verschleppt worden ist.« Usias Zunge wurde schwer. Der Wein begann zu wirken. »Ich hab ihm gesagt, er solle das nicht tun. Ein blonder Mann, der durch das Weiße Tor geht, ist ein toter Mann.«
»Aber warum denn? Was machen sie mit den Blonden?«
Der Frachtmeister hob in verzweifelter Geste die Hände. »Was weiß ich? Sie sind Zapote. Die denken nicht wie normale Menschen. Die opfern die Blonden ihren Göttern. Es gibt dort, verborgen im Park, einen großen, steinernen Schlangenkopf. Es heißt, das sei der Einstieg in ihre Totenwelt.«
Diesen Schlangenkopf würde er sich in einer mondlosen Nacht näher ansehen, entschied Nodon. Aber nicht allein.
»Ach, weißt du, Roter«, nuschelte Usia weiter. »Es gibt so viele Geschichten über die Zapote. Sie waren angeblich die ersten Menschen hier auf Nangog, sagen manche. Andere erzählen, dass es früher einmal Tempel aller Götter im Weltenmund gegeben hat. Doch dann kam es zu einem Streit. Und die Zapote haben etwas hierhergebracht. Etwas Dunkles. Sie allein konnten es beherrschen und nutzten es, um die anderen Priester aus dem Krater zu vertreiben. Alle mussten fliehen. Und dann haben die vertriebenen Priester Türme rings um den Krater errichtet und wachen dort in jeder Stunde ängstlich über das, was dank der Zapote am Grund des Kraters lauert.«
»Und was sollte das sein?«
»Wer es gesehen hat, lebt nicht mehr. Dieser Kreatur bringen sie die blonden Männer als Opfer. Sie verschlingt die Herzen der Krieger. So halten die Zapote sie im Zaum.«
Noch eine verlorene Nacht, dachte Nodon. Diese Geschichte war allzu verworren. Wahrscheinlich war nicht einmal ein Fünkchen Wahrheit daran. Der Alte lallte nur noch. Er war stockbetrunken. Inzwischen stand der dritte Krug Wein vor ihnen.
»Ich danke dir für deine Erzählungen, Usia«, sagte Nodon und erhob sich. »Brauchst du Hilfe, um zu deinem Nachtlager zu finden.«
»Ich finde überall hin«, murrte der Frachtmeister störrisch. »Ich war ein Wolkenschiffer. Ich habe die Wunder dieser Welt gesehen. Und ich weiß, was dort unten ist.« Er winkte ihn näher. »Komm, Geheimnisse darf man nicht laut aussprechen.«
Nodon beugte sich vor. Der warme Atem des Alten schlug ihm ins Gesicht. Usias Augen sahen wässrig aus, als wolle er gleich weinen. »Geh nicht zu den Zapote, ja? Nicht mit ihren Mädchen gehen«, stammelte er. »Dann verrate ich dir das Geheimnis. Aber erst musst du es mir versprechen.«
»Ich schwöre es dir bei dem Geist meines Onkels.«
Usia nickte ergriffen. »Das ist ein guter Schwur.« Dann beugte er sich so weit vor, dass seine welken Lippen fast Nodons Wange berührten. »Einen Drachen haben sie dort unten gefangen. Einen echten Drachen.«
Die Gefangene
Shaya lauschte auf das leise, reibende Geräusch. Es war ihr nicht entgangen, dass sich der Hirtenjunge zu dem hohen Felsen gedreht hatte, der ihr Lager abschirmte, und er versuchte, seine Lederfesseln durchzureiben. Es würde dauern. Immer wieder hielt der Junge inne und lauschte auf ihren gleichmäßigen Atem. Sie konnte spüren, dass er Todesangst hatte.
Shaya musste sich gar nicht schlafend stellen, immer wieder döste sie ein, wenn das Reiben aussetzte, und wurde wach, wenn es einsetzte. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er Stunde um Stunde an den Fesseln arbeitete. Als die Nacht zu Ende ging, setzte leichter Nieselregen ein. Ein erleichterter Seufzer schreckte Shaya auf – sie war tatsächlich für eine Weile tief eingeschlafen! Der Junge hatte nicht bemerkt, dass sie erwacht war. Er fühlte sich augenscheinlich sicher, denn er richtete sich auf und massierte seine schmerzenden Glieder.
Lange hatte Shaya überlegt, wie sie sich in diesem Augenblick verhalten sollte. Würde er versuchen, sie umzubringen, würde sie ihn töten. Wollte er sie vergewaltigen, würde sie ihm seinen lächerlichen Knochendolch durch die Kehle rammen. Es lag nun an ihm.
Aus halbgeschlossenen Lidern sah sie, wie er sich bückte und über den Boden tastete, bis er einen großen Stein fand. Zu groß! Damit könnte er ihr ohne Weiteres den Schädel einschlagen! Er pirschte auf sie zu und war kaum einen Schritt mehr entfernt, als sie sich aufsetzte und vermeintlich schlaftrunken blinzelte. Der Hirtenjunge sprang vor und holte weit zum Schlag aus. Der Stein traf Shaya seitlich am Kopf. Sie bewegte sich mit dem Schlag, um dem Treffer etwas von seiner Wucht zu nehmen, dennoch explodierten grelle Blitze vor ihren Augen. Sie ging zu Boden, ließ den Jungen aber nicht aus den Augen. Wenn er jetzt noch einmal nachsetzte, um einen weiteren Schlag zu führen, blieb ihr keine andere Wahl, als ihn zu töten. Sie lag auf der Seite. Den linken Arm hielt sie unter ihrem Körper verborgen, in der Hand den Knochendolch.