»Du dumme Ziege!«, fluchte der Junge und ließ den Stein fallen. »Ich habe noch nie ein Mädchen geschlagen. Ich habe das nicht gewollt …«
Shaya seufzte und ließ den Dolch los. Der Kleine sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen.
»Hörst du mich?«
Sie gab einen unartikulierten Laut von sich.
»Das wollte ich nicht! Du hast mich dazu gezwungen! Wehr dich jetzt nicht … Ich möchte dich nicht noch einmal schlagen, aber ich werde es tun.« Bei den letzten Worten zitterte seine Stimme.
Er beugte sich über Shaya, drehte sie ganz auf den Bauch und stemmte ihr ein Knie in den Rücken.
Konnte sie ihm trauen? Sie musste sich jetzt entscheiden! Hatte er sie erst einmal gefesselt, konnte er mit ihr machen, was er wollte. Das Zittern seiner Stimme … War das Unsicherheit oder Hass gewesen?
Als er ihre Hände auf den Rücken zerrte, ließ Shaya das Knochenmesser los, sodass es unter ihrem Leib verborgen liegen blieb. Er suchte nicht einmal danach, so aufgeregt war er.
Sie spürte, wie er zitterte, als er ihr die Hände fesselte. Dann zog er sie in eine sitzende Position hoch.
»Sobald es richtig hell wird, werde ich dich zum Haus des Himmels zurückbringen«, sagte er, ohne ihr in die Augen zu blicken.
Er versuchte, das Feuer wieder zu entfachen, das der Nieselregen in einen grauen Haufen aus Asche und Holzkohlestücke verwandelt hatte. Nach einer Weile gab er auf. Nicht der kleinste Funken Glut hatte sich erhalten.
Blasses Licht kroch über die gezackten Bergkämme. Der Junge kramte in einer Ledertasche nach einem Kanten Brot. Er brach zuerst die verschimmelten Stücke ab und hielt Shaya dann den Rest hin. »Hunger?«
»Ich bin gefesselt. Wie soll ich essen?«
Einen Moment wirkte der Hirte unschlüssig. »Mund auf«, sagte er dann einfach und streckte ihr das Brot so dicht vors Gesicht, dass sie abbeißen konnte. Es schmeckte muffig und war von Feuchtigkeit durchzogen.
Der Junge nahm für sich die schimmeligen Stücke. Er aß schweigend. Shaya konnte sehen, wie er mit sich rang. Schließlich begann er sorgfältig, seine wenigen Habseligkeiten in eine Ledertasche zu verpacken. Als er damit fertig war, sah er sie endlich an. »Ich muss dich ins Haus des Himmels zurückbringen. Ich habe keine Wahl. Alle Hirten in den Bergen haben den Befehl, entflohene Mädchen zu fangen und zur Mutter der Mütter zu führen. Die Frauen dort helfen uns. Wenn Krankheiten die Herden heimsuchen, wir zu viele Tiere verlieren und Hunger uns heimsucht. So ist es seit alter Zeit.«
Shaya entgegnete nichts. Sie hatte für sich längst beschlossen, dass es keinen Ausweg gab. Vor einer Devanthar konnte sie nicht davonlaufen. So würde sie dem Jungen eine Belohnung einbringen.
Ein langer Marsch begann. Er führte sie über Ziegenpfade den steinigen Hang entlang nach Westen. Es war ein anderer Weg als der, auf dem sie in der Nacht geflohen war. Meist hielt er sich vor ihr. Shaya hatte das Gefühl, dass es ihn nervös machte, sie anzusehen. Wahrlich hatte er noch nie bei einem Mädchen gelegen.
Gegen Mittag hörte der Regen auf, doch der Himmel blieb grau. Ein kalter Wind strich über die Hänge und biss in Shayas zerfetzte Lumpen. Ihre Füße schmerzten und waren wund, obwohl der Hirte ihr die Schuhe nicht abgenommen hatte, die sie ihm am Vortag gestohlen hatte.
»Machst du dir keine Sorgen um deine Ziegen?«, fragte sie irgendwann. Sie hatten die Tiere inzwischen weit hinter sich gelassen.
»Es gibt hier keine Wölfe. Nur Ochsenbeißer. Und wenn er kommt, ist es egal, ob ich in der Nähe bin.«
»Ich sagte dir doch, er wird nicht mehr kommen.«
Er drehte sich um. »Wie sollte ein unbewaffnetes Mädchen mit wunden Füßen einen Bären erlegen?«
»Indem sie mit ihm einen Felsvorsprung hinabstürzt.« Sie beschrieb ihm genau, wo er den Kadaver finden konnte. »Hol dir sein Fell und die Zähne. Das wird dir einige Münzen einbringen und dich berühmt machen. Sag, du hast ihn erlegt, und dein Leben wird sich ändern.«
»Ich möchte mein Leben nicht auf Lügen begründen.«
»Wem nutzt es, wenn Fleisch und Fell verrotten?« Sie konnte sehen, wie ihn ihre Worte ins Grübeln brachten.
»Aber es wird mir niemand zutrauen, dass ich Ochsenbeißer getötet habe.«
»Dann sag du doch, du seiest mit ihm von der Klippe gestürzt.«
Er stöhnte. Die Geschichte behagte ihm ganz offensichtlich nicht.
»Hol dir wenigstens etwas von dem Fleisch. Und iss nicht von der Leber! Bei Bären ist sie meist von Würmern verseucht.«
Wieder gingen sie schweigend. Inzwischen war jeder Schritt für Shaya eine Qual. Aber sie wollte ihn nicht darum bitten anzuhalten. Dazu war sie zu stolz. Sie war eine Prinzessin der Ischkuzaia, Tochter des Unsterblichen Madyas. Sie war härter als ein Hirtenjunge.
Am späten Nachmittag querten sie einen Bach. Das eisige Wasser tat ihren Füßen gut. Am anderen Ufer legten sie endlich eine kurze Rast ein. Der Hirte bot ihr erneut etwas von seinem schimmeligen Brot an. Diesmal gab es einen weißen, krümeligen Käse dazu. Wenn sie ihn beobachtete, wurden seine Bewegungen linkisch. Er hielt den Kopf meist geneigt, sodass sein schwarzes Lockenhaar vor sein Gesicht fiel und es vor ihrem Blick verbarg.
»Wie war es, dem Unsterblichen Muwatta zu begegnen?«
»Schmerzhaft!«, entgegnete sie bitter, entschlossen, dazu kein weiteres Wort zu sagen.
Er schien verstanden zu haben.
Erneut nahmen sie ihren quälenden Marsch auf. Er ging diesmal langsamer. Hatte er gemerkt, wie erschöpft sie war? Er sagte jedenfalls nichts, und so flüchtete sich Shaya in Erinnerungen an Aaron: Ihre gestohlenen Nächte auf dem Rücken eines Wolkensammlers, als sie nach dem Himmelspiraten Tarkon Eisenzunge gesucht hatte. Immer und immer wieder dachte sie daran, wie sie für ihn getanzt hatte und wie sie einander ihre Narben gezeigt hatten.
»Dort ist ein Lager.« Die Stimme des Jungen ließ die süßen Träume zerfließen. Er deutete den Hang hinauf. Ein Felsen reflektierte den Lichtschein eines Feuers. Eine schmale, blassgraue Rauchsäule war zu sehen. Mehr Ahnung als Gewissheit.
»Menschenjäger«, sagte er knapp.
»Woher willst du das wissen?«
»Es riecht nach Gebratenem. Wir Hirten braten nur an Festtagen eine Ziege. Und außer uns Hirten gibt es niemanden in diesen Bergen.«
Shaya roch keinen Bratenduft. Sie sah nur den gelben Feuerschein auf der Felswand über ihnen. Das Lager musste sich in einer Senke befinden. Klammen Herzens folgte sie ihrem selbsterwählten Wächter den Hang hinauf. Sie hatten sich vielleicht auf hundert Schritt genähert, als ein Warnruf erklang. Nur Augenblicke später erschienen zwei Männer mit Gesichtern wie Schakale, zwischen ihnen eine Frau, die Shaya nur zu gut kannte – Malnigal, eine der Wächterinnen aus dem Haus des Himmels. Ein böses Lächeln spielte um die Lippen der Priesterin, die sich schwer auf einen Eschenholzstab stützte.
»Weit bist du nicht gekommen, Prinzessin«, begrüßte sie Shaya mit ihrer vertrauten, grotesk hohen Stimme, die so gar nicht zu ihrem bulligen Aussehen passte. Dem Hirten warf sie einen misstrauischen Blick zu. »Wie kann so ein Knochensack wie du eine Kriegerin überwältigen?« Sie musterte Shaya, sah all die Prellungen und Schürfwunden und das Blut an ihren Füßen, das das Leder der Hirtenschuhe dunkel gefärbt hatte. »War wohl ein harter Kampf.«