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»Lass deine Finger davon!«, zischte eine raue Stimme hinter ihm.

Das blutige Bild in seiner Erinnerung zerstob, doch blieb das Gefühl, auch er selbst sei von diesen Pfeilen tödlich verwundet worden. Wie konnte man weiterleben, wenn man sein Glück gefunden und es wieder verloren hatte?

»Ich habe es zuerst gesehen. Lass es liegen!«, giftete die raue Stimme erneut.

Barnaba drehte sich müde um und sah eine junge Frau ein paar Schritt entfernt zwischen den Leichen kauern. Ihr gegenüber stand gestikulierend eine Alte mit drohend erhobener Faust. Die junge Frau hockte über einem Krieger mit langem, schwarzem Haar, dessen Kopf in unnatürlichem Winkel verdreht war. Der Tote war nackt. Ausgeplündert. Er musste einmal ein bedeutender Mann gewesen sein, denn die Leichenfledderer hatten ihm weder sein Lendentuch noch seine Sandalen gelassen. Ein Satrap vielleicht? Oder ein Leibwächter der beiden Unsterblichen? Er war von stattlicher Statur. Ganz anders als das Mädchen, das sich nun gierig über ihn beugte. Ihr Gesicht war von roten Geschwüren bedeckt. Ihr Mund klaffte auf. Eines ihrer Augen war zugeschwollen, das andere funkelte schwarz im blassen Morgenlicht. »Etwas zu sehen heißt nicht, es zu besitzen«, entgegnete sie und hob einen Dolch auf, dessen Klinge silbern blitzte. Ein eisernes Messer. Die Waffe musste ein kleines Vermögen wert sein, auch wenn die Luwier viel Eisen auf das Schlachtfeld getragen hatten.

»Geh zu den Männern, Mädchen. Schenk ihnen ein Lächeln, und das Gold des Schlachtfelds fließt in deine Börse, ohne dass du dich bücken musst. Und lass mir, was mir gehört!« Die Alte streckte fordernd die Rechte aus. Ein zerschlissener Umhang hing von ihren Schultern. Er verdeckte das kurze Messer, das sie in der Linken hielt.

»Tu das nicht!«, rief Barnaba bestürzt. »Heute ist genug Blut geflossen.«

Die Vettel starrte ihn böse an.

»Ich weiß, was ich von ihr zu erwarten habe«, sagte die Jüngere eisig und hob die Eisenklinge, bereit, um das Messer zu kämpfen.

»Im Namen der Götter, haltet ein!«

»Die Götter haben mir dieses Messer geschenkt«, zischte die Alte. »Ich werde es nicht wegen eines Schwätzers aufgeben.«

»Du wagst es, dich dem Wort eines Heiligen Mannes zu widersetzen!« Eine machtvolle Stimme erklang von der nahen Uferböschung. Dann stieg eine hagere Gestalt aus der Flusssenke empor: Gatha, der Schamane aus den Bergen. Verfilztes weißes Haar hing dem hohlwangigen Geisterrufer bis zu den Hüften hinab. Er hielt mit beiden Händen einen altersdunklen Holzstab. Er brauchte ihn nicht als Krücke. Auch wenn Gatha aussah, als laste ein Jahrhundert auf seinem Rücken, seine Augen strahlten eine schier unnachgiebige Kraft aus. Es hieß, allein ein Blick von ihm genüge, um anderen seinen Willen aufzuzwingen.

»Ich bin Gatha, der Hüter dieser Berge, geboren aus dieser Erde!« Der westliche Himmel hinter dem Schamanen war noch nachtschwarz. Der erste Silberstreif über den östlichen Bergen hatte nicht die Kraft, diese Dunkelheit zu vertreiben. »Die unbändige Macht dieses Landes fließt durch mich. Ihr seid nicht hier geboren, aber selbst ihr beide könnt es spüren«, verkündete er mit unheilschwangerer Stimme. »Mir gehören diese Toten. Sie werden Staub von meinem Staub sein, denn ich bin Garagum.«

Ein Windstoß fuhr durch das trockene Flussbett, zerzauste dem Schamanen das Haar und wirbelte feinen Sand auf.

Die ältere der beiden Frauen wich zurück.

»Lass den Dolch fallen, törichtes Weib! Ein Wort von mir, und dir wird bei lebendigem Leib dunkles Gewürm die Eingeweide zerfressen.«

Barnaba erschauderte. Er verachtete den Schamanen, und zugleich spürte er die Macht, die von dem alten Mann ausging. Er glaubte nicht, dass Gatha wirklich zaubern konnte. Diese Gabe war den Menschen nicht geschenkt worden. Aber wer Gatha sah, der vergaß das. Niemand vermochte sich seiner Ausstrahlung zu entziehen. Man glaubte ihm, ganz gleich, was er sagte.

Das Mädchen mit dem entstellten Gesicht legte den Dolch auf dem nackten Leichnam ab, als sei er ein Altar. Etwas Feierliches lag in der Geste und zugleich auch unterwürfige Demut. Geduckt wich sie vor Gatha zurück. Die Alte war, kaum dass der Schamane sich gezeigt hatte, so schnell es ihre gichtkrummen Glieder zuließen, geflohen.

Gatha stakste mit weiten Schritten über die Toten. Mit seinen langen, dürren Beinen erinnerte er Barnaba an einen Fischreiher, der in seichtem Gewässer nach Beute suchte. Als der Priester bei ihm ankam, kniete er vor ihm nieder.

»Das ist unsere Gabe, Junge. Die Macht der Worte. Eines Tages wirst du so sein wie ich. Ich spüre es in dir, das alles verzehrende Feuer, das nur in jenen brennt, die von den Göttern berührt wurden.«

Barnaba hoffte, dass Gatha in seinen Zügen nicht lesen konnte, wie sehr er den Schamanen verabscheute. So zu sein wie er war das Letzte, was Barnaba im Leben wollte. Eher würde er sich die Kehle durchschneiden!

»Weißt du, Junge, die Menschen brauchen jemanden, der ihnen sagt, was gut für sie ist. Jemanden, der Verantwortung übernimmt und Entscheidungen trifft. Die meisten quälen sich damit, etwas entscheiden zu müssen. Sie verharren zögernd. Das Glück, das wir ihnen schenken, besteht in der Illusion, dass es jemanden gibt, der immer weiß, was richtig und was falsch ist.«

»Und du weißt immer, was richtig ist?«

Der Alte funkelte ihn verärgert an. »Hör mir zu, Junge! Ich sprach von der Illusion. Natürlich irre auch ich mich gelegentlich. Aber das ist vollkommen bedeutungslos, denn in der Enttäuschung über eine zerstörte Gewissheit keimt immer schon der Traum nach einer neuen Wahrheit, der es zu folgen gilt. So wird die Welt regiert.«

Barnaba maß den Schamanen mit ungläubigem Blick. Er hatte Gatha immer für einen närrischen Wilden gehalten. Wahrscheinlich hätte er sich gut mit Abir Ataš verstanden, dem Hohepriester, der sich gegen Aaron verschworen hatte und dem Barnaba so lange gedient hatte.

»Der Umgang mit der Macht ist dir nicht fremd, nicht wahr?«

Barnaba wich dem stechenden Blick des Alten aus. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Mich kannst du nicht täuschen, Junge. Wer in ein Tal am Ende der Welt flieht, der muss mächtige Feinde haben. Und die hat man nur, wenn man der Macht nahe war. Warum sonst hätten selbst die Daimonen nach dir greifen sollen? Du trägst ein Geheimnis in dir …« Er lachte leise, ein Laut, der Barnaba an das freudlose Meckern einer mürrischen Ziege erinnerte. »Keine Sorge, dein Geheimnis interessiert mich nicht. Was immer es ist, ich bin den Göttern dankbar, denn es hat dich hierhergeführt, und ich brauche jemanden wie dich.«

Und weil du mich brauchst, musste Ikuška sterben, dachte Barnaba zornig. Er wusste, dass der alte Schamane ihn zu seinem Nachfolger machen wollte. Aus diesem Grund musste er die Jäger und Hirten in den Bergen kennenlernen, um ihre Sorgen und Eigenarten wissen. Er sollte unter ihnen leben, bis sie ihn, den Fremden, anerkannten. Es würde Jahre dauern. Der Alte dachte weit in die Zukunft. Doch Barnaba wollte nie wieder die rechte Hand eines Priesters sein.

Gatha griff nach dem Messer. Kaum dass er es berührte, zuckte er zurück. Mit weiten Augen sah er die Waffe an. »Dies ist …« Er schüttelte sich wie ein Hund, der sein nasses Fell trocknete. »Dunkelheit«, murmelte er und spuckte auf die Waffe. »Übel wohnt in diesem Erz. In ein Schlangennest zu greifen ist weniger gefährlich, als diesen Dolch zu berühren. Wir müssen ihn an einen Ort bringen, wo keines Menschen Hand ihn mehr erreichen kann.«

Skeptisch betrachtete Barnaba das Messer, das vor ihm lag. Sein Griff war mit schmuddeligen Lederriemen umwickelt, doch die Klinge war ungewöhnlich. Sie schimmerte silbern und wirkte anders als die eisernen Waffen, die er bislang gesehen hatte. Kein Anflug von Rost zeigte sich auf dem Metall, dafür ein leicht bläulicher Glanz. Der Dolch war eigenartig … Aber war er wirklich böse? Er griff nach der Waffe. »Du meinst wohl, ich soll sie tragen, wenn es dir so unangenehm ist, sie zu berühren.«