»Ich konnte sie im Schlaf überwältigen«, gestand ihr Wächter freimütig. Shaya schüttelte den Kopf. Der Junge würde es nie weit bringen. Er war einfach zu ehrlich und hatte es verpasst, mit einer Lügengeschichte gut dazustehen.
»Du hast jetzt Gelegenheit, vor mir niederzuknien, Barbarenhure, und meine Füße zu küssen. Dann werde ich dir vielleicht sogar etwas zu trinken geben.« Wäre sie ein Mann, Malnigal hätte ein Schmied sein können. Ihre Gestalt war massig, das Gesicht grob und flächig. Selbst die kunstvoll hochgesteckte und mit Knochennadeln geschmückte Frisur der Priesterinnen half nicht, ihr Anmut zu verleihen. Ihr tief orangenes, unförmiges Kleid hing wie ein Sack an ihr herab.
»Selbst wenn ich knie, werde ich mich zu weit über dir erheben, um deine Füße zu erreichen.« Der Spruch war dumm und ohne Finesse, doch Shaya konnte nicht anders. Bei ihrer ersten Begegnung, als die Priesterin versucht hatte, sie mit ihrem Eschenholzstab zu schlagen, hatte sie Malnigal das Handgelenk gebrochen. Damals waren ihre Hände nicht gefesselt gewesen.
»Haltet sie fest«, zischte Malnigal ihren beiden Handlangern zu.
Die Jäger traten vor und packten sie bei den Armen. Beide rochen, als würden sie Wasser nur zum Trinken benutzen. Sie waren mit gekrümmten Häutemessern bewaffnet.
Malnigal umrundete Shaya. »Du hast keine Angst?«, flüsterte sie ihr ins Ohr.
»Wer nichts mehr zu verlieren hat, verliert auch jegliche Angst.«
»Ich glaube, da irrst du, Prinzessin. Solange man lebt, hat man immer noch etwas zu verlieren. Ich werde dir helfen, dies zu begreifen.« Mit diesen Worten rammte sie ihr den Eschenstab in die linke Kniekehle.
Shaya stöhnte auf und knickte ein. In dem Moment traf sie ein zweiter Stoß in die rechte Kniekehle. Die beiden Jäger drückten sie zu Boden und zerrten ihre gefesselten Hände hoch, sodass ihr Gesicht nun fast den steinigen Hang berührte.
»Das könnt ihr nicht tun«, begehrte der Hirtenjunge auf. »Ihr habt doch gesagt, sie ist eine Prinzessin.«
»Sie ist eine Barbarenhure. Und so wie sie aussieht, hast du dich mit deinen Schlägen doch auch nicht zurückgehalten. Oder ist das nachts passiert, als du sie genommen hast?«
Shaya hörte den Jungen keuchen. »Ich würde niemals …«
»Du hast sie nicht gefickt?« Malnigal lachte auf. »Ziehst du Ziegen vor? Dummkopf. Zieh ihr die Schuhe aus. Die wird sie nicht mehr brauchen. Die letzten Meilen geht sie morgen barfuß.«
»Aber ihre Füße sind wund … Sie kann nicht …«
»Du hast sie doch gehört: Sie hat vor nichts Angst. So sind Prinzessinnen, sie können sich niemals vorstellen, dass die Welt einmal genauso hart und ungerecht zu ihnen sein könnte, wie zu allen anderen.«
»Ich brauche die Schuhe nicht mehr!«
Shaya wurde noch immer zu Boden gepresst. Sie konnte den Jungen nicht sehen, doch sie hörte deutlich die hilflose Wut in seiner Stimme. »Geh!«, zischte sie.
»Ja, geh«, stimmte Malnigal zu. »Du brauchst weder Weib noch Schuhe. Du bist ja ein echter Naturbursche. Und weil das so ist, habe ich gerade entschieden, dass du auch keine Belohnung brauchst, dafür dass du uns die Barbarenschlampe gebracht hast.« Sie redete sich immer weiter in Rage, ihre hohe Stimme überschlug sich, wurde bei den letzten Worten zu einem schrillen Kreischen. Widerspruch duldete Malnigal nur von der Mutter der Mütter, der gegenüber sie immer eine speichelleckerische Höflichkeit an den Tag legte.
»Geh!«, wiederholte Shaya beschwörend.
Die Priesterin schob ihr einen ihrer staubbedeckten Schuhe vors Gesicht. »Küss meinen Fuß!«
Shayas Mund war zu trocken, sonst hätte sie auf das rissige, abgewetzte Leder gespuckt. Sie hob den Kopf, rieb ihre Wange an der strammen Wade der Priesterin, als sei sie ein Kätzchen. Und dann biss sie zu. Mit aller Wut, die in ihre brannte, grub sie die Zähne in das harte Fleisch.
Malnigal stieß einen spitzen Schrei aus. Ihr Eschenstab fuhr mit mörderischer Wucht auf Shayas Rücken nieder. Doch die Prinzessin fühlte den Schmerz kaum. Blut füllte ihren Mund, und als sie schließlich von Malnigal fortgezerrt wurde, spuckte sie ein Stück Fleisch aus.
»Für diese Nacht gehört diese Hure euch«, zischte die Priesterin, bleich vor Wut und Schmerz. Malnigal presste eine Hand auf die blutende Wade. »Nehmt sie, sooft ihr wollt. Wenn sie morgen nur noch kriechen kann, ist das egal. Nur leben muss sie noch.«
Shaya hatte sich zusammengerollt, die Beine angezogen und die Arme vor der Brust gekreuzt. Sie dachte an Shen Yi Miao Shou, den Heilkundigen vom Seidenfluss, der auf Geheiß ihres Vaters ihre Jungfräulichkeit wiederhergestellt hatte und der sie gelehrt hatte, wie sie in eine schöne Erinnerung flüchten konnte, um dem Hier und Jetzt ganz zu entfliehen.
Beinahe wäre es gelungen, da holten sie die Worte des Hirtenjungen in die Wirklichkeit zurück
»Ihr tut ihr gar nichts!« Breitbeinig stellte sich der Junge über sie, drohend seinen Hirtenstab erhoben. »Ich komme mit zum Haus des Himmels. Keiner von euch wird sie anrühren. Sie gehört allein der Mutter der Mütter.«
Malnigal lachte höhnisch. »Glaubst du, ich würde etwas tun, was die Mutter der Mütter nicht billigt.« Sie winkte den beiden Jägern. »Stopft ihm das Maul. Endgültig!«
Die beiden zogen ihre Messer und begannen grinsend und siegesgewiss, den Jungen zu umkreisen. Sie bewegten sich schnell und so, dass einer von ihnen stets im Rücken des Jungen war.
»Greif an!«, rief Shaya, die wusste, dass dies die einzige Hoffnung war, diesen ungleichen Kampf zu überleben.
Der Hirte hob den Stab, um auf den Jäger vor ihm einzudreschen. Ein tödlicher Fehler. Sein Gegner unterlief die Waffe, noch bevor der Junge zuschlagen konnte. Das Messer traf den Hirten in den Bauch. Blut spritzte auf wie eine dunkle Fontäne. Die Hauptader war durchtrennt. Der Hirte war tot, bevor er richtig begriffen hatte, was geschehen war.
Verzweifelt kämpfte Shaya gegen ihre Fesseln an, doch sie erreichte nur, dass ihr das dünne Leder immer tiefer ins Fleisch schnitt.
»Dein kleiner Prinz war wohl nur ein Maulheld.« Der Jäger packte das lange gelockte Haar des Hirten und zerrte den Leichnam hoch. »Schade, jetzt kann er nicht mehr zusehen, was richtige Männer mit einem Weib anfangen.«
»Ich werde dich umbringen«, zischte Shaya. »Ich werde deine Leber an meine Hunde verfüttern.«
»Gar nichts wirst du«, lachte der Mann, und Speicheltropfen sprühten Shaya ins Gesicht. »Du bist keine Prinzessin mehr, verstehst du. Du bist jetzt unsere Hure.«
Der zweite Jäger packte sie von hinten und zerrte sie auf einen Felsblock. Dann schob er ihre Tunika hoch.
Eine Prinzessin des Reiches
Shaya konnte nicht sagen, wie lange sie schon eingesperrt war. Ein paar Stunden? Ein paar Tage? Die Kälte war tief in ihre Knochen gedrungen. Sie hätte es nie für möglich gehalten, aber sie sehnte sich nach der Zeit im Ziegenstall zurück. Dort hatte es wenigstens Licht gegeben. Und die Leiber der Tiere waren warm gewesen.
In dieser Zelle herrschte Finsternis. Sie musste irgendwo tief im Fels liegen. Genau erinnern konnte sie sich nicht mehr daran, wie sie hierhergekommen war. Jede Faser ihres Leibes war vom Schmerz versengt gewesen. Aber ihre Träume hatten sie gerettet. Nicht nur die von Aaron. Auch davon, wie sie einst für ihren Vater auf der Trommel getanzt hatte. Damals war er stolz auf sie gewesen. Und sie würde ihn noch ein letztes Mal stolz machen. Sie würde nicht Hand an sich legen, ganz gleich, was sie ihr auch antaten. Selbstmord begehen hieß, den Kampf aufgeben. Sie war eine Kriegerin! Sie mussten sie schon umbringen. Brechen konnten sie sie nicht.
Shaya hob den Kopf – da war ein Geräusch. Schritte. Nicht die leisen Schritte der Priesterinnen. Feste, selbstbewusste waren das. Der Riegel scharrte, und einen Augenblick später stach gleißendes Licht wie Dolche in ihre Augen. Sie stöhnte auf. Schloss die Lider, doch das Licht brannte weiter, bis sie ihren Arm hochnahm und die Augen damit abschirmte.
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, fragte eine fremde Stimme empört. »Sie ist eine Prinzessin des Reiches! Wie könnt ihr sie in dieses Rattenloch sperren?«