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»Sie ist geflohen. Sie ist gefährlich, Unsterblicher.« Das war die Stimme Tabithas, der Mutter der Mütter.

»Ich will keine Ausflüchte hören. Wenn sie fliehen konnte, dann habt ihr versagt. Holt sie hier raus. Wascht sie. Ich will sie in dem großen Zimmer sehen, in dem du mich empfangen hast. Und ich will, dass eure Häscher ebenfalls dorthin gebracht werden. Immerhin haben sie Shaya zurückgeholt. Und behandelt die Prinzessin mit mehr Respekt!«

Shaya konnte spüren, wie sich jemand näherte, doch sie wagte nicht, den Arm von den Augen zu nehmen. Eine Hand strich über ihre Wange. »Es ist vorbei, Prinzessin. Euer Leiden hat ein Ende.«

Das war nicht Muwattas Stimme! Wer war der Fremde, den Tabitha Unsterblicher genannt hatte? Und was bedeuteten seine Worte? War der Winter schon vorüber? War so viel Zeit verstrichen? Sie reckte stolz ihr Kinn vor. Wenn der Tag ihres Todes nun gekommen war, dann wollte sie wie eine Kriegerin sterben.

Aufrecht und ohne Angst.

Pferde

Das Licht machte ihr noch immer zu schaffen. Shaya hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, Tränen rannen ihr über die Wangen, und die Wut darüber verbrannte sie schier. Dieses verdammte Licht! Sie konnte nichts dagegen tun. Das Zimmer war zu hell! Es war zu groß, die Wände zu weiß getüncht. Nur die Decke war vom Ruß zweier Feuerschalen, die angenehme Wärme spendeten, gezeichnet.

Shaya gegenüber stand ein hünenhafter Krieger. Sie glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Jetzt erinnerte sie sich: Er war der Hauptmann von Kuruntas Leibwache gewesen. An seinen Namen erinnerte sie sich nicht. Hatte Muwatta ihn als ihren Henker geschickt?

Der Krieger hatte ein hartes Gesicht. Ein struppiges Wolfsfell hing von seinen Schultern. Sein prächtiger Glockenharnisch funkelte golden im Licht der Feuerschalen. Die Hände über den Griff einer riesigen Keule gefaltet, sah er sie unverwandt an. Neben ihm stand die Mutter aller Mütter, hinter ihm die Leibwachen des Unsterblichen. Sie trugen prächtige rote Wollumhänge. Doch keiner von ihnen war so groß wie der Hüne mit der Keule.

»Ihr also seid Shaya.« Er deutete eine Verneigung an. »Ich habe Euch bislang nur von Ferne gesehen. Ich bedauere, dass man Euch so schlecht behandelt hat. Dies geschah ohne mein Wissen. Doch es war auch nicht klug zu fliehen.«

War das die Stimme, die sie im Kerker gehört hatte? Sie war sich nicht sicher. »Ich hatte entschieden, lieber auf der Flucht zu sterben, als länger wie ein Tier in einen Stall voller Ziegen gesperrt zu sein.«

»Unter Ziegen gesperrt?« Der Hüne sah auf Tabitha hinab. Die alte Priesterin wirkte neben ihm wie ein Kind mit der Haut von Dörrfleisch.

»Wir mussten sie bestrafen«, erklärte die Mutter der Mütter. Sie sah dem Hünen dabei selbstbewusst in die Augen. »Nichts geschah gegen den Willen Muwattas.«

»Mein Wille ist das nicht. Shaya ist das Weib des Unsterblichen, wenn auch nicht seine erste Frau. Sie hat den Rang einer Prinzessin des Reiches. Und wer eine Prinzessin zu Ziegen sperrt, der beleidigt mich und das Reich.«

Tabitha senkte demütig das Haupt. Es war das allererste Mal, dass Shaya sie so sah. Die Mutter der Mütter hatte Angst vor diesem Mann. Und was redete er da? Mich und das Reich?

»Wer bist du?«, platzte es aus ihr hervor.

Ein Raunen ging durch den Raum. Tabitha bedachte sie mit einem eisigen Blick. Hatte sie einen Fehler begangen?

»Ich bin Labarna. Nachdem es der allweisen Išta gefiel, den Unsterblichen Muwatta noch auf dem Schlachtfeld von Kush zu richten, weil er unserem Reich Schande bereitet hatte, endschied sie, mir die Last der Herrschaft aufzubürden. Ich bin der neue Unsterbliche von Luwien, Prinzessin. Und auch wenn nicht wir die Heilige Hochzeit feierten, so seid Ihr nach den Gesetzen Luwiens doch eine meiner Frauen.«

Shaya sah ihn argwöhnisch an. Noch nie war ein Unsterblicher gestorben! Das war ein Widerspruch in sich! Sie waren die Auserwählten der Götter und standen nur eine Stufe unter ihnen. Erst als die Kriegerprinzessin die Angst in den rehbraunen Augen Tabithas sah, war sie überzeug. Eine Last fiel von ihr. Alles hatte sich verändert!

Sie war nicht länger die Gedemütigte. Nun war sie es, die gefürchtet wurde. Zumindest in dieser Stunde. Sie dachte an all die Demütigungen, die ihr hier widerfahren waren, und an den grausamen Mord an dem Hirtenjungen, der versucht hatte, sie zu verteidigen.

»Ich bedauere, Euch mitteilen zu müssen, dass dies nicht der Ort ist, der zu sein er vorgibt, mein Gemahl.« Shaya ließ Tabitha nicht aus den Augen und genoss den Anblick der aufkeimenden Panik in ihrem Gesicht.

»Was heißt das?« Seine Worte waren kühl gesprochen, durchdrungen von einer Ahnung von Grausamkeit dahinter. Labarna war ohne Zweifel ein Mann, der hart durchgriff, wenn er seinen Namen beschmutzt wähnte.

»Ich wurde hier nicht allein wie Vieh behandelt«, begann sie und sah sich nach Malnigal um, doch die Priesterin war nicht anwesend. »Als ich auf der Flucht gefangen wurde …«, Shaya stockte und rang mit ihren Gefühlen. Es wollte ihr nicht gelingen, mit fester Stimme zu sprechen: » … man hat die Jäger angewiesen, mich zu missbrauchen.«

Labarna erbleichte. »Ist das wirklich wahr?«

Shaya nickte, unfähig ein weiteres Wort herauszubringen und aufgewühlt über ihre Schwäche.

Der Unsterbliche wandte sich einem seiner Leibwächter zu und forderte von diesem eine große, doppelköpfige Axt. Dann verließ er das Zimmer mit weiten Schritten und ließ eisiges Schweigen zurück. Kurze Zeit später drangen laute Stimmen aus den Gärten zu ihnen empor.

Shaya rührte sich nicht von der Stelle, trat nicht an das weite Fenster, von dem aus sie hätte sehen können, was draußen vor sich ging. Niemand im Raum rührte sich. Nur Tabitha wandte den Kopf und sah sie unentwegt an. In ihren Augen lag ein stummes Flehen.

Shaya ignorierte es. Solange sie die Mutter der Mütter kannte, war sie kalt und grausam gewesen. Eine unbarmherzige Tyrannin, die auf jede Verfehlung – ob eingebildet oder tatsächlich begangen – nur eine Antwort gekannt hatte: härteste Strafen! Nun sollte sie erleben, was es hieß, ausgeliefert zu sein.

Shaya stand ganz gerade, obwohl sie seit der Nacht der erneuten Vergewaltigung das Gefühl hatte, ein ätzender Eisblock verzehre sie langsam von innen heraus. Es war allein die Aussicht auf Rache, die ihr die Kraft gab, sich aufrecht zu halten. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Tageslicht, das bei Weitem nicht so hell war, wie es ihr anfangs erschienen war. Sie betrachtete Tabitha so lange mit kaltem Blick, bis diese die Augen senkte. Die Mutter der Mütter hatte begriffen, wie töricht es war, auf Schonung zu hoffen.

Als Labarna zurückkehrte, waren seine bronzenen Beinschienen und sein Wickelrock mit Blut bespritzt. »Wer hat Euch noch schlecht behandelt, meine Gemahlin?«

Es war eigenartig, von einem Mann, den sie vor diesem Tag noch nie bewusst wahrgenommen hatte, Gemahlin genannt zu werden. Dennoch, das anfängliche Hochgefühl, kein ohnmächtiges Opfer mehr zu sein, war verflogen. Und so antwortete sie müde:

»Wollen wir unter vier Augen über das Haus des Himmels reden? Ich möchte nicht, dass dieser ehrwürdige Ort Schaden nimmt, weil einzelne Priesterinnen pflichtvergessen waren. Was ich zu sagen habe, ist nicht für die Ohren Eurer Krieger bestimmt.« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Tabitha zu schlottern begann, als habe sie ein Fieber gepackt.

Labarna runzelte die Stirn, dann scheuchte er alle mit einer ungeduldigen Handbewegung aus dem Raum. »Geht!«

»Wer noch?«, fragte er, kaum dass die Tür geschlossen war. Und Shaya erzählte, wie sie an diesem Ort wieder und wieder gedemütigt worden war. Sie wollte, dass Labarna verstand, warum sie geflohen war. Anfangs fand sie stockend die Worte, dann aber redete sie sich mehr und mehr in Rage.

Es war dem Unsterblichen anzusehen, dass das Gehörte ihn fassungslos und zornig machte. Als sie endete, hielt er ihr die blutige Axt hin. »Ich habe von Euch gehört, Prinzessin. Ich weiß, dass Ihr Männer in Schlachten geführt habt und Euch mit Eurem Mut und Eurem Können Respekt erworben habt. Wollt Ihr selbst den Tod zu Euren Feinden bringen, meine Gemahlin?«