Bidayn hatte das Gefühl, dass der Priester bei diesen Worten genau in ihre Richtung sah. Sie zwang sich zur Ruhe. Sie durfte jetzt nichts Auffälliges tun.
Der Nachen hatte die breite Ufertreppe fast erreicht. Etliche der Gläubigen traten ins Wasser. Sie streckten dem Priester die Hände entgegen, wollten von ihm berührt werden, um ihn mit allen Sinnen zu erfassen.
»Nangog weiß um dich, Amur. Und um dich, Elias, und auch um Tarak und Baidur. Die Göttin kennt eure Schwächen wie auch eure Ergebenheit. Und sie hat zu mir gesprochen in dieser Nacht. Euch allen soll ich eine Botschaft ausrichten. Dir, Noram, und dir, Sakur.«
Er schien jeden Einzelnen mit Namen zu kennen. Der Priester sprang vom Boot und verschwand in der Menschenmenge. Der Mann, der den Nachen zum Ufer gestakt hatte, versuchte, den Priester von der begeisterten Menschenmenge abzuschirmen. Er sah jung und stark aus, dem Enthusiasmus Hunderter hatte aber auch er nichts entgegenzusetzen.
Bidayn stand immer noch auf der höchsten Treppenstufe, doch das Gewühl aus Menschen konnte sie nicht überblicken. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Wo war Zarah? Eben noch war sie an der Seite des Predigers gewesen. Hoffentlich geschah ihr nichts in diesem Durcheinander. Ihrer wunderbaren Haut.
Bidayn hatte sie einmal berührt, als Zarah ein Kleid getragen hatte, das ihren Rücken fast völlig freigelassen hatte. Sie hatte den Namen die Seidene wahrlich verdient, denn zart wie Seide war auch ihre Haut. Die junge Elfe träumte davon, auch eines Tages eine solche Haut zu haben. Lyvianne hatte Andeutungen gemacht, dass sie Zauber weben könne, die ihr so eine Haut schenkten. Doch dazu müsste Bidayn die dunkleren Pfade ihrer Kunst beschreiten. Sie blickte über das Meer aus zuckenden Armen, das den Prediger umbrandete. So viele Menschenkinder gab es. Wer würde zwei oder drei von ihnen vermissen?
»Nangog kennt jeden Einzelnen von euch«, rief der Prediger, als habe er ihren Gedanken gespürt.
»Im Namen der Göttin bitte ich die Furchtsamen unter euch, verlasst die Stadt! Nehmt jene mit, die euch nahestehen. Meidet jegliche Siedlung, aber auch Berge, die Küsten und das Meer. Flieht in die weiten Ebenen. Wessen Glaube aber so fest wie der Fels ist, auf dem wir stehen, der möge bleiben. Denn sein Glaube wird sein Schutzwall sein und ihn vor allem Übel bewahren. Wer bleibt, der wird sehen, wie Nangog sich erhebt. Die fünf sind nah, von denen schon in alter Zeit verheißen wurde, dass sie Nangogs Fesseln zerschlagen werden.«
Bidayn zog sich in die Mündung des Kanals zurück, der sie in die Zisterne geführt hatte. Sie musste die anderen warnen! Woher wusste der Prediger von ihnen? War es die Seidene oder wirklich Nangog, die aus ihm sprach? Doch wer auch immer es gewesen war, nun mussten sie sich beeilen, denn die Kunde über die Fünf würde sich überall in der Stadt unter den Anhängern der Großen Göttin verbreiten. Und diese Menschenkinder waren Verfolgte. Was, wenn einer von ihnen unter der Folter über die Fünf sprach? Sie waren nicht vollkommen unbemerkt in die Goldene Stadt gelangt. Mindestens das Narbengesicht Kolja und die Leibwachen des Statthalters von Valesia hatten sie kommen sehen. Sie konnten nicht länger im Haus der Seidenen bleiben!
»In einer Woche treffen wir uns bei den fünf Lotusblüten, meine Brüder und Schwestern. Dort wird uns die schlafende Göttin ihre Macht offenbaren. Sie wird ein Wunder wirken und all jene retten, deren Glauben fest und unverrückbar ist.«
Bidayn wandte sich ab und eilte durch den Kanal davon. Niemand beachtete sie, da noch alle Augen auf dem Prediger ruhten. Sie begann zu laufen. Sie musste mit Nandalee sprechen und ihre Gefährten warnen. Ihnen zerrann die Zeit zwischen den Fingern.
Ihre Anwesenheit war nicht länger geheim, und es war nur noch eine Frage des Glücks, wie lange sie unentdeckt blieben.
Die Verräterin
Arcumenna strich sanft über den Rücken der Seidenen. Er hatte sie mehr vermisst, als gut für ihn war. »Du warst zu lange fort.«
Zarah drehte sich halb zu ihm um und schenkte ihm einen dieser Blicke, die ihn in Flammen setzten. »Ich hatte auch Sehnsucht nach dir.«
Keiner anderen Hure glaubte er ihre Lügen so gern wie Zarah. Sie war eine Meisterin der Illusion. Wenn sie bei ihm war, hatte er stets das Gefühl, sie sei eine junge Landadelige, mit der er eine heimliche Affäre pflegte. Er war mindestens zwanzig Jahre älter, aber wenn Zarah ihn so ansah, fiel das Alter von ihm ab. Er zog sie an sich, genoss es, ihren warmen Leib zu spüren. »Was hast du über Kolja herausgefunden? Steht er noch unter dem Schutz des Unsterblichen Aaron?«
»Ich glaube nicht. Er gehört nicht mehr zur Leibwache des Unsterblichen, und die meisten der Zinnernen sind mit ihm gegangen. Sie scheinen aber den Unsterblichen nicht im Streit verlassen zu haben. Ihr Soldvertrag endete.«
Er streichelte weiter ihren Rücken. Arcumenna konnte besser denken, wenn er eine schöne Frau im Arm hatte, die ihn zuvor von jenen Säften befreit hatte, die den Verstand eines Mannes die verrücktesten Kapriolen schlagen ließen. Es war ihm schwergefallen, Zarah in die Intrige gegen Kolja einzubinden. Aber ihm war klar gewesen, dass der Drusnier sie sich auf jeden Fall schnappen würde. Es war nur folgerichtig, dass sich ein Lude die beste Stute in seinem Stall ganz genau ansah.
»Hat er deine Geschichte geglaubt?«
Zarah lachte. »Ehrlich gesagt war ich verblüfft, wie genau du dich in die Gedanken dieses Schlägers hineinversetzen konntest. Ich habe ihn warten lassen, und er hat ganz genau das getan, was du vorausgesagt hast. Er hat sich den armen Kerl geschnappt, den du zu meinem Bruder gemacht hast, und mich mit ihm erpresst. Er hat ihm sogar einen Finger abgeschnitten, damit ich sehe, wie ernst es ihm ist. Danach bin ich zusammengebrochen und habe mich ihm unter Tränen gefügt.« Sie lachte erneut ihr glockenhelles, entzückendes Lachen. »Er hat alles geglaubt, mein Meister der Täuschung.«
»Es ist eine Sache, sich etwas auszudenken, und eine ganz andere, so eine Täuschung Wirklichkeit werden zu lassen. In unserem Fall mag geholfen haben, dass wir sehr nahe bei der Wahrheit bleiben konnten.«
Zarah war tatsächlich die Frau eines Übersetzers am Platz der Tausend Zungen geworden, nachdem ihr Bruder einen Unfall gehabt hatte. Nur hatte ihr wirklicher Bruder diesen Unfall nicht überlebt. Den Jungen, den Kolja nun für Zarahs Bruder hielt, hatte Arcumenna in einem der Siechenhäuser der Stadt gefunden. Er würde sich niemals verplappern, da er seinen Verstand verloren hatte. Mochte Kolja mit ihm machen, was er wollte. Er war einzig und allein von Bedeutung, um dem Drusnier vorzugaukeln, er habe Zarah fest in der Hand, und dass sie nicht wagen würde, etwas gegen seinen Willen zu unternehmen.
Hätte sie Kolja nicht den falschen Bruder geliefert, hätte er so lange gesucht, bis er vielleicht tatsächlich eine Schwachstelle Zarahs gefunden hätte. Jeder Mensch hatte einen wunden Punkt.
Arcumenna ließ seinen Blick über den vollkommenen Leib seiner Geliebten wandern. Er kannte Zarah erst seit etwas mehr als einem halben Jahr, aber nie zuvor war er einer Frau so sehr verfallen. Vielleicht war es gut, dass er sie nur selten sehen konnte, solange Kolja nicht aus der Welt geschafft war. Der Laris von Truria wollte sich erst ganz sicher sein, dass der Unsterbliche Aaron in keinster Weise in die Geschäfte des Drusniers verwickelt war. Eigentlich war nicht vorstellbar, dass ein Unsterblicher etwas mit Freudenhäusern zu tun hatte. Aber bei Männern aus Aram konnte man nie wissen. Sie waren kompliziert und nicht so wunderbar vorhersehbar wie die Drusnier.
Es war nicht normal, dass ein Herrscher einen Mann wie Kolja zum Hauptmann seiner Leibwache machte. Und noch verrückter waren die Dinge, die er über die Landreform gehört hatte, die Aaron plante. Auch hätte er niemals geglaubt, dass der Unsterbliche Arams mit seinem Bauernheer gegen Muwatta hätte siegen können. Bei so einem Mann musste er vorsichtig sein! Alles war bei ihm möglich. Auch dass er wusste, dass Teile seiner Leibwache alle Freudenhäuser der Goldenen Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten.