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Er ließ sie los und lächelte, wie immer, wenn er sich bedroht fühlte. Es war ein Lächeln, das die meisten blendete und über seine wirkliche Stimmung täuschte. »Manche Angelegenheiten lassen sich nicht im Bett regeln, meine Schöne.«

»Da habe ich grundlegend andere Erfahrungen gemacht.« Sie küsste ihn erneut auf die Stirn und erhob sich geschmeidig vom Lager. »Ich habe das Gefühl, dass du meiner überdrüssig bist. Ich werde mich – mit deiner Erlaubnis – nun zurückziehen.«

Er griff nach ihrem Arm. »Was?«

Sie wirkte verzweifelt. »Du bist plötzlich so kalt. Ich glaube, ich habe mich in dir getäuscht. Du bist wie alle anderen Männer auch nur an einer schönen Stunde mit mir interessiert.«

Arcumenna ließ sie los und strich ihr mit der Hand über die Lippen. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich es nicht schätze, wenn Frauen sich in hohe Politik einmischen. Ihr seid nicht dafür geschaffen. Euer Verstand vermag all die verwickelten Zusammenhänge nicht zu erfassen. Du hast mich geärgert. Du weißt das. Jetzt sag mir schon dein drängendes Geheimnis, und wir vergessen diese Sache.«

Einen Moment sah Zarah ihn nachdenklich an, dann sagte sie: »Aber du musst mir schwören, dass du mich immer beschützen wirst. Was ich dir verraten kann, wird dich mächtiger machen. Aber mich kann es das Leben kosten. Es gibt viele Männer, die ohne zu zögern töten würden, um meine Lippen zu versiegeln.«

Arcumenna musste lächeln. Das war einer der Gründe, warum Frauen bei den Spielen der Macht nichts zu suchen hatten. Sie wurden immer gleich so pathetisch. »Ich werde dich immer schützen, solange mein Herz schlägt, solange die beiden Monde über dem Horizont Nangogs aufgehen. Du weißt, ich bin dir verfallen, selbst wenn du mich ein wenig neckst.« Er zog sie dicht an sich heran, fühlte ihren warmen Körper, atmete ihren berauschenden Duft. Dann küsste er sie lange und leidenschaftlich.

Als er seine Lippen löste, schimmerten ihre Augen feucht.

»Das war schön«, hauchte Zarah. »Ich vertraue dir wie keinem anderen Mann. Deshalb sollst du mein Geheimnis erfahren. Ich weiß, wann der Priester, der im Namen der Gefesselten Göttin predigt, das nächste Mal seine Gläubigen um sich scharen wird. Sie treffen sich an einem Ort, den sie die fünf Lotusblüten nennen. Es ist ein großes Sammelbecken für Abwässer, in das fünf Kanäle münden. Es liegt in dem Labyrinth tief unter der Stadt. Du wirst alle Anhänger der Göttin auf einmal gefangen nehmen können. Das Herz ihrer Bewegung schlägt in dieser Stadt. Reißt du es heraus, dann wird der Kult, den sie aufgebaut haben, auseinanderbrechen. Du wirst der Geschichte Nangogs eine neue Wendung geben. Dein Name wird für immer in die Annalen dieser Welt geschrieben sein.«

Der Mann im Stein

» … der Erste der Sieben aber … und das Lebende Licht umhüllte ihn mit ihrem Atem … Und so ward er hinaufgetragen vom Tor der Toten. Und es blieb unberührt der Platz, der seinem Haupte bestimmt war. So verließ der Frevler den Mund der Welt und ward gegeben den Dienern des Lebenden Lichtes. Sie aber erschraken ob der Dunkelheit, die der Mann in seiner Seele trug, und als das Lebende Licht sah, dass der Schrecken nicht gebannt war, nahm sie den Mann, von dem das Dunkel nicht weichen wollte, und schloss ihn in einen Stein, damit das Dunkle im Dunkel vergehe. Den Stein aber schenkte sie ihrer Schwester, der Schwarzbeschwingten, die dem Dunkel stets nahestand. Und sie fand einen Platz für den Stein, an dem sein Geheimnis gewahrt blieb, fern des Lichtes, wo Dunkel Dunkles gebiert. Und seine Stimme blieb, als sein Leben ging, denn er war voll der Zaubermacht. … in fremder Zunge und nur die Schwarzbeschwingte … ward aus seinem Blut geboren. … Eine Mauer verschloss den Ort, wo die Stimme lebt immerdar.«

Zitiert nach: Der lange Fluss, Bd. VI, Von der gefesselten Göttin – Erzählungen Nandalees, Kapitel XI – Der Mann im Stein, Zitat nach einer zerbrochenen Tontafel aus dem Archiv des Tempels des Lebenden Lichts, S. 19, niedergelegt von Eleborn, Herrscher über das Reich unter den Wogen, verwahrt in der Bibliothek der Tiefe.

Drei Tage noch

Nandalee schob die Bruchstücke der Tontafel von sich und rieb sich die brennenden Augen. Immer und immer wieder hatte sie den Text gelesen, sodass sie ihn inzwischen auswendig aufsagen und selbst mit geschlossenen Augen die seltsamen Schriftzeichen vor sich sehen konnte, die wie die Abdrücke von Vogelkrallen aussahen. Sie hatte am Vortag die zerbrochene Tafel unter einem Regal im Archiv des Tempels des Lebenden Lichts gefunden. Von Staub bedeckt, mussten die Tontafelfragmente dort schon lange Jahre gelegen haben. Hunderte Texte hatte sie zuvor durchgesehen, ohne fündig zu werden, und mit jedem Tag fiel es ihr schwerer, den freundlichen Priestern des Lebenden Lichts zu erklären, warum sie immer wieder ins Archiv des Tempels kam.

Ein letztes Mal überflog sie die Zeilen und versuchte, die Geschichte zu entschlüsseln, die sich hinter dem kryptischen Text verbarg. Waren die Sieben jene verschollenen sieben ersten Meister der Weißen Halle? Wer sonst wäre eine Gefahr gewesen, die ein Eingreifen der Devanthar heraufbeschworen hatte? Was hatten sie dem Überlebenden angetan? Und warum fanden Lyvianne und Bidayn, die in den Archiven des Išta-Tempels suchten, keine Spur von diesem Mann im Stein? Er musste doch dorthin gebracht worden sein.

War die Schwarzbeschwingte am Ende eine andere Devanthar als Išta?

Leises Räuspern riss Nandalee aus ihren Gedanken. In der Tür zum Archiv stand die Bewahrerin des Wissens, eine rothaarige Frau in mittleren Jahren, mit einer Haut so weiß wie Milch. Nandalee bedachte sie nur mit einem kurzen Blick. Die Elfe empfand die Gewänder der Priesterinnen als verstörend. Sie alle waren in Wickelröcke in erlesenen, leuchtenden Farben gekleidet: Sonnengelb mit rotem Fransenbesatz, lichtes Blau mit goldenem Saum … Jede der Priesterinnen schien andere Farben zu tragen. Ihre engen Blusen mit Halbärmeln waren so geschnitten, dass sie die Brüste der Frauen nicht bedeckten. Nandalee war nicht prüde, im Gegenteil, sie machte sich gerne einen Spaß daraus, Gonvalon mit anzüglichen Reden zu necken und ihn fordernd zu verführen, wann immer sie Sehnsucht nach seinen Zärtlichkeiten empfand. Aber sich wie diese Priesterinnen des Lebenden Lichtes halb nackt in aller Öffentlichkeit zu zeigen, war etwas anderes. Das verstand sie nicht.

Behutsam legte sie die Fragmente der Tontafel auf den Boden einer jener Kisten, in denen hier im Archiv diese empfindlichen Schriftstücke verstaut wurden. Anschließend schichtete sie die anderen Texte darüber, die eigentlich in diese Kiste gehörten. Es waren Listen mit den Namen aller Wolkensammler, die jemals Priesterinnen des Lebenden Lichts über die Himmel von Nangog getragen hatten.

Ohne sich von dem zweiten Räuspern der Priesterin beeindrucken zu lassen, legte Nandalee zuerst einen kleinen Silberbarren auf den Tisch, an dem sie den ganzen Tag gesessen hatte, und stellte dann die Kiste mit den Tontafeln in eine der unzähligen Wandnischen zurück. Auf den Vorderseiten der Kisten stand geschrieben, um welche Themen die Texte kreisten, die man dort finden würde. Es gab Tausende Tafeln, die einfach nur Verwaltungslisten aufführten, doch hatte Nandalee auch Reiseberichte, Texte über Architektur und Beschreibungen von Kunstwerken entdeckt.

Inzwischen hatte die Rothaarige, ohne großes Aufhebens darum zu machen, den Silberbarren an sich genommen. Gemeinsam gingen sie durch den langen Tunnel, der hinauf zum Tempel führte.

War das Archiv in Nandalees Augen schon ein Hinweis darauf, dass sich die Priesterinnen des Lebenden Lichts für alles Schöne interessierten, so war ihr Tempel ein einziger Beweis dieser These. Auf den weiß getünchten Wänden des Gangs waren Fresken aufgemalt, die eine Flotte auf strahlend blauer See zeigten. Alle Schiffe waren in leuchtenden Farben gehalten: rot, blau oder gelb. Ihre schlanken Rümpfe durchpflügten die See, in der sich Delphine und anderes Meeresgetier tummelten. Priesterinnen streuten Blüten ins Wasser und blickten mit feierlich erhobenen Händen zu einem strahlenden Licht fern am Horizont. Regelmäßig auf dem Boden aufgestellte Öllampen ließen bernsteinfarbenes Licht über die Wände tanzen und vermehrten den Glanz der Farben.