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Wie jedes Mal führte die Bewahrerin des Wissens Nandalee auch an diesem Abend durch den Hauptsaal des Tempels, obwohl es ganz gewiss auch andere Wege hinaus gab. Trotz der späten Stunde knieten noch zahllose Gläubige im stummen Gebet oder standen einfach nur zwischen den Säulen und erfreuten sich an der Schönheit des Tempels. Auch sie war lange in der Säulenhalle geblieben, als sie zum ersten Mal hierhergekommen war. Es war ein Ort der Harmonie, der ganz und gar nicht zu dem passen wollte, was sie sonst auf Nangog von den Werken der Menschenkinder gesehen hatte. Jedes Mal, wenn sie die Halle durchquerte, musste sie an Eleborn denken. Ihm hätte der Tempel des Lebenden Lichts ganz sicher gefallen. Wo er jetzt wohl war? Früher hatte er es geliebt, Skulpturen aus Licht und Wasser zu erschaffen, vergängliche Kunstwerke, deren einziger Nutzen darin bestand, für einige kostbare Momente das Auge des Betrachters zu erfreuen.

Die Priesterinnen des Tempels hätten seine Schülerinnen sein können. In einer großen, goldenen Schale an der Rückwand der Säulenhalle brannte ein helles Feuer. Bewegliche Spiegel aus polierten Bronzeplatten fingen das Licht der Flamme ein und ließen es über Wände und Säulen gleiten. Andere Feuer mussten unter dem Boden brennen. Ihr Schein fiel durch Glasplatten, zwischen denen Wasser eingeschlossen war, sodass auch von ihnen unregelmäßige Lichtreflexe ausgingen, die ein Wellenmuster auf die weiße Decke zeichneten. Dazu erklangen aus verborgenen Räumen seitlich des Säulengangs sanfte Gongschläge und Gesang. Es war ein verwunschener Ort, der zur inneren Einkehr einlud.

Doch heute hatte Nandalee keinen Blick für den Zauber der Säulenhalle. Mit einem leichten Nicken verabschiedete sie sich von der Rothaarigen, strebte dann eilig dem weiten Bronzetor entgegen und stieg die Treppen hinab zu der Sänfte, die dort den ganzen Tag auf sie gewartet hatte.

»Zum Haus der Seidenen«, rief sie den Trägern zu, während sie die Vorhänge schloss und sich in die Kissen sinken ließ. Ihr Rücken war verspannt von den endlosen Stunden, die sie im Archiv gesessen hatte. Sie war es nicht gewohnt, ganze Tage stillzusitzen und zu lesen. Lieber würde sie noch einmal durch die Sümpfe wandern, in denen sie auf den Wolkensammler getroffen waren. Sie stellte sich vor, was Bidayn davon halten würde, und musste lächeln.

Bald kreisten ihre Gedanken wieder um den Mann im Stein. »Und als das Lebende Licht sah, dass der Schrecken nicht gebannt war, nahm sie den Mann, von dem das Dunkel nicht weichen wollte, und schloss ihn in einen Stein, damit das Dunkle im Dunkel vergehe«, wiederholte Nandalee leise. War es nur irgendein obskurer Text, oder war sie auf die Spur eines anderen Drachenelfen gestoßen, der Jahrhunderte vor ihrer Geburt hierhergekommen war?

Vor dem Tor zum Haus der Seidenen lungerten einige der Schläger herum, die Kolja stets bei seinen Besuchen begleiteten. Nandalee hasste es, wie die Kerle sie ansahen, wenn sie aus der Sänfte stieg und durch das Tor ging. Sie musste mitten zwischen ihnen hindurch. Sie betatschten sie, machten anzügliche Bemerkungen und verglichen sie mit Frauen, deren Namen sie nicht kannte und deren besondere Eigenarten sie geflissentlich überhörte. Sie war sich sicher, dass sie diese Drecksschweine binnen Augenblicken und ganz ohne Waffen ins Jenseits befördern könnte. Sie hatte sich oft genug mit Ailyn gemessen, der Meisterin des waffenlosen Kampfes. Jener Drachenelfe, die gemeinsam mit Gonvalon gekommen war, um sie vor den Trollen zu retten, und die sie in der Weißen Halle so gnadenlos verprügelt hatte. Nandalee seufzte. Hier durfte sie nichts dergleichen tun, und so stieg sie rasch die Treppe hinab, die zu den Gemächern führte, die ihnen die Seidene überlassen hatte. Aus der oberen Etage erklang das lustvolle Stöhnen der Hausherrin. Fleisch klatschte auf Fleisch. Wie konnte Zarah nur dieses Narbengesicht ertragen. Bevor sie Nangog verließ, sollte sie ihm die Kehle durchschneiden, dachte Nandalee gereizt. Wenigstens diesen einen Gefallen konnte sie Zarah für ihre Gastfreundschaft gewähren. Überhaupt hatte dieser Hurenbock dem Haus doch fernbleiben wollen, um den Geschäften und dem Ruf der Seidenen nicht zu schaden. Offensichtlich hatte seine Lust über die Vernunft gesiegt.

Ihre Gefährten erwarteten Nandalee in eigenartig gedrückter Stimmung.

»Ein Prediger der Menschenkinder hat von uns gesprochen. Wir sind die Fünf, die angeblich diese Welt verändern sollen«, sagte Gonvalon, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Bidayn war dabei.«

»Wir sollten hier verschwinden«, sagte Nodon entschieden, nachdem Nandalee alles über Bidayns Abenteuer in den Kanälen erfahren hatte. »Wir sind hier nicht mehr länger sicher. Zarah gehört zu denen, die die Grünen Geister anbeten. Auch sie hat die Prophezeiung über die Fünf gehört, und sie wird sich bereits ihren Reim darauf gemacht haben, wer damit gemeint ist.«

»Hat sie das nicht von Anfang an?«, widersprach Nandalee. »Nangog hat sie uns geschickt, weil sie eine ihrer Auserwählten ist. Weil sie ihr vertraut.«

»Es gibt noch einen zweiten Grund zur Sorge: Wir befinden uns in genau dem Haus, in dem der Menschensohn ein und aus geht, der dich, Bidayn und Gonvalon schon einmal gesehen hat. Einer von euch hat ihm damals den Arm abgehackt!« Nodon war völlig außer sich. »Was glaubt ihr, was geschehen wird, wenn er euch wiedererkennt? Wir müssen uns ein anderes Quartier suchen.«

»Ist das klug?«, mischte sich nun Lyvianne ein. Sie wirkte vollkommen ruhig, als sie alle der Reihe nach ansah. Sicherlich hatte Bidayn ihr als Erste ihre Entdeckung mitgeteilt. Sie hatte die meiste Zeit gehabt, mit kühlem Kopf die neue Entwicklung zu überdenken. »Jetzt gibt es also Hunderte Menschenkinder, die darauf warten, dass fünf Fremde ihnen die vermeintliche Erlösung bringen. In deren Augen können wir überall in der Stadt sein. Bidayn hat gesehen, dass die Anhänger Nangogs aus allen Schichten der Gesellschaft kommen. Wenn wir fünf auffällige Gestalten uns ausgerechnet jetzt auf die Suche nach einem neuen Quartier machen, ist das blanke Unvernunft! Ich plädiere dafür, dass wir hierbleiben. Und sollte dieser Kolja, der die Hausherrin jeden Tag besucht, zu einem Problem werden, wäre es mir ein Vergnügen, eine endgültige Lösung zu finden.«

Bei ihren letzten Worten lächelte sie auf eine Art, die Nandalee einen Schauer über den Rücken jagte. Warum hatte sich Bidayn unter all den Meisterinnen und Meistern der Weißen Halle ausgerechnet Lyvianne als Lehrerin ausgewählt? Daraus konnte nichts Gutes erwachsen. Lyvianne hatte schon lange den Pfad des Lichtes verlassen. Sie fand Gefallen daran, sich kalt und unbarmherzig zu zeigen. Und sie würde Bidayn mit in die Dunkelheit ziehen.

Wieder musste Nandalee an den Text der zerbrochenen Tontafel denken: Und als das Lebende Licht sah, dass der Schrecken nicht gebannt war, nahm sie den Mann, von dem das Dunkel nicht weichen wollte, und schloss ihn in einen Stein, damit das Dunkle im Dunkel vergehe. War von jener Art von Dunkel die Rede, das auch Lyvianne in sich trug?

»Lyvianne hat recht«, stimmte Gonvalon zu. Es schmerzte Nandalee, dass er sich auf die Seite der Zauberweberin schlug. Was sie gesagt hatte, klang richtig, aber dennoch wurde Nandalee das Gefühl nicht los, dass es falsch war, auf sie zu hören.

Aus den Augenwinkeln betrachtete sie Gonvalon, der ihr abgewandt am Tisch saß. Seit Tagen verhielt er sich merkwürdig. Er suchte ihre Nähe und blieb zugleich seltsam distanziert. Irgendetwas stimmte nicht. Verheimlichte er ihr etwas? Oder war sie schon völlig überspannt?

»Und wir sollten noch etwas ganz anderes bedenken«, setzte der Schwertmeister nach und holte sie damit in die Gegenwart zurück. »Vielleicht war das gar nicht in erster Linie eine Botschaft für die Gläubigen. Vielleicht war sie für uns bestimmt! Nangog ist eine Göttin, und wie es scheint, ist sie immer noch mit fast allem auf ihrer Welt verbunden – auch wenn ihr die Macht genommen wurde, großen Einfluss zu nehmen. Sie drängt uns, zu ihr zu kommen. Wir sollten mutiger sein und nicht unsere Zeit damit vergeuden, nach dem sichersten Weg zu suchen!«