Nandalee fasste nach dem Amulett an ihrem Hals. Nachtatem war sehr deutlich gewesen. Dieses Kleinod durfte nicht verloren gehen. Und auf gar keinen Fall durfte es in die Hände der Devanthar gelangen. Mutig sollten sie sein, aber nicht tollkühn. Ihr Unternehmen durfte nicht so enden wie der Vorstoß der sieben Meister. Sie mussten einen sicheren Weg hinab in den Krater finden. Oder zumindest herausbekommen, welche Gefahren sie dort erwarteten.
Nandalee erzählte ihren Gefährten von der zerbrochenen Tontafel. »Hast du irgendetwas über einen Mann in einem Stein in den Archiven des Išta-Tempels gefunden, Lyvianne?«
»Nein. Das Einzige, was ich dort gefunden habe, ist ein lüsterner Hohepriester, der sich großsprecherisch der Bewahrer der Tiefen Gewölbe nennt. Er ist nicht der oberste Priester des Tempels, aber doch einer der bedeutendsten. Er überschüttet mich und Bidayn mit anzüglichen Schmeicheleien und Andeutungen über all die Geheimnisse, die er kennt. In dieser Welt fast ohne Frauen scheinen alle Männer verrückt geworden zu sein. Für einen heimlichen Kuss hat er mich heute auf eine Tontafel blicken lassen, aus der hervorgeht, dass die Hohepriesterin in Schmuggelgeschäfte verwickelt ist.« Lyvianne schnaubte verächtlich. »Mein Gefühl ist, dass es in seinen Tiefen Gewölben nichts als Spinnweben gibt. Ich kann an diesem Ort keine Magie spüren.«
»Du hast im Tempel dein Verborgenes Auge geöffnet?«, fragte Nandalee entsetzt. »Ausgerechnet dort! Willst du uns alle verraten?«
»Wie du siehst, lebe ich noch, und es sind uns auch noch keine Devathar auf den Fersen, oder?«, entgegnete Lyvianne völlig unbeeindruckt. »Wir waren lange genug zurückhaltend. Auch ich glaube, dass Nangog uns eine Botschaft geschickt hat. Wir müssen uns beeilen. Sie braucht uns. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Zeit in irgendwelchen Archiven zu verlieren. Dort finden wir nichts, wonach wir suchen. Und ein Mann in einem Stein wird uns wohl kaum weiterhelfen.«
»Ich weiß, dass wir auf dem richtigen Weg sind«, beharrte Nandalee.
Sie sah zu Nodon, der mit versteinerter Miene an der Wand lehnte. »Hast du etwas Neues über die Zapote herausgefunden? Und was ist mit dem blonden Mann, der vielleicht ein Elf ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Der Blonde ist nicht aufzufinden. Vielleicht zeigt er sich aber auch deshalb nicht mehr, weil er bemerkt hat, dass ich auf ihn aufmerksam geworden bin. Oder aber er war so dumm, sich in die Tempelgärten locken zu lassen. Womöglich gibt es dort einen Abstieg in den Krater. Ich würde gerne …«
»Drei Tage noch«, schnitt ihm Nandalee das Wort ab. »So lange werdet ihr noch meinem Weg folgen, dem Geheimnis des Weltenmunds nachzuspüren. Noch gehen wir keine unüberschaubaren Risiken ein!«
Der Weg ins Dunkel
»Nandalee ist zu jung, um uns anzuführen. Sie hat sich verrannt und ist zu stolz, um es zuzugeben. Diese endlosen Stunden mit alten Aufzeichnungen bringen gar nichts. Nodon hat vom ersten Tag an nicht auf sie gehört und ist seinen eigenen Weg gegangen. Ich werde es von nun an genauso machen. Was ist mit dir, Bidayn?«
Ihre Sänfte neigte sich nach hinten. Sie wurden eine der endlosen Treppen dieser Stadt hinaufgetragen. Lyvianne spürte, wie das Gewicht ihres Körpers sie in die Kissen drückte. Bidayn hielt sich an zwei Haltegriffen zwischen den Kissen fest. Ihre Schülerin hatte ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen, sodass es ganz im Schatten verborgen blieb, und dennoch wand sie sich unter ihrem Blick. Bidayn ging Unannehmlichkeiten gerne aus dem Weg. »Ich weiß nicht, was wir anders machen sollten«, antwortete sie schließlich leise.
Lyvianne ergriff die Hände ihrer Schülerin und löste sie von den Haltegriffen. Die junge Elfe rutschte ihr ein Stück entgegen. »Folge mir, und ich zeige dir, was zu tun ist.« Sie streichelte über die dünnen Handschuhe. »Darf ich sie sehen?«
Bidayn nickte schüchtern. Es war drückend schwül. Wahrscheinlich trug außer ihr niemand in der ganzen Stadt Handschuhe. Lyvianne streifte das dünne, geschmeidige Leder von Bidayns schlanken Fingern. Auf der weißen Haut des Handrückens zeichnete sich ein Rautenmuster ab. Diese Narben bedeckten ihren gesamten Körper. Es sah aus, als habe man sie in ein Fischernetz aus glühendem Draht gewickelt. Nichts vermochte diese Narben auszulöschen.
Die Sänfte neigte sich wieder in die Waagerechte. Der Lärm von Marktschreiern umfing sie und der Gestank nicht mehr ganz frischen Fisches.
»Ich werde dir deine Schönheit zurückgeben«, sagte Lyvianne und lächelte. »Nein, entschuldige, deine makellose Haut. Schön bist du immer gewesen. Würdest du dich nicht verstecken, ich bin mir sicher, viele Männer würden dein Aussehen nicht als Makel betrachten, sondern dich exotisch und geheimnisvoll finden.«
»Ich finde es abstoßend«, zischte Bidayn. »Ich kann es nicht ertragen, meinen Leib zu betrachten. Ich würde alles tun, um diese Narben verschwinden zu lassen und eine Haut wie die Seidene zu haben. Hast du sie einmal berührt, Lyvianne? Sie ist makellos!«
»Für eine Menschentochter.«
»Nein, in jeder Hinsicht. So unglaublich zart. Als hätte sie ihre Haut viele Jahre täglich mit Ölen behandelt.«
»Du weißt, wie schnell Menschenhaut altert?«
Bidayn streifte ihre Handschuhe wieder über. Sie hielt den Kopf gesenkt, gefangen in ihren Träumen.
»Hast du schon einmal einem Mann beigelegen?«
»Warum?«
»Hast du?«
»Natürlich!«, entgegnete Bidayn so hastig und so betont, dass Lyvianne es nicht glaubte. Ihre Schülerin träumte, statt zu leben. Das war ihr größter Fehler. Aber davon würde sie Bidayn nun heilen.
»Gut«, sagte Lyvianne. »Heute werden wir gemeinsam einen Mann verführen. Ich werde dir zeigen, was zu tun ist, damit ein Mann jedes seiner Geheimnisse mit Freuden mit dir teilt. Es wird dein Leben verändern.« Sie sah, wie Bidayns Hände sich erneut fest um die Haltegriffe zwischen den Kissen schlossen, obwohl sie diesmal keine Treppe hinaufgetragen wurden.
»Ich glaube nicht, dass ich das will«, sagte ihre Schülerin steif.
»Und wenn ich dir dafür eine neue Haut schenke?« Es war Bidayn anzusehen, wie sehr sie mit sich rang. »Ich will dich nicht überreden. Wenn du mit mir gehst, werden sich dir in dieser Nacht ganz neue Pfade in der Kunst des Zauberwebens erschließen. Ich lehre dich eine dunklere, mächtigere Magie. Doch du musst es wollen. Dies ist keine Kunst, die man mit halbem Herzen ausübt. Verschreibe dich ihr ganz und gar, und sie wird dir ungeahnte Freiheiten schenken. Gehe diesen Weg unentschlossen, und er wird dich verschlingen. Hilf mir heute, vergiss dabei all deine moralischen Bedenken, und ich schenke dir eine neue Haut, sobald wir aus dem Krater zurückkehren.«
Wie um ihre Worte in ihrer Endgültigkeit zu unterstreichen, wurde in diesem Augenblick die Sänfte abgestellt. Sie hatten vor einem großen Haus mit staubiger, rotbrauner Ziegelfassade gehalten. Hier hatte Lyvianne ein Zimmer für einen Tag gemietet. Es war kein allzu schäbiges Viertel, und es gab einen Hof, auf den kein Fenster blickte, sodass sie ungesehen die Sänfte verstecken konnten.
Entschlossen stieg Lyvianne aus. Drei Schritt und sie trat in den düsteren Hauseingang, dessen Schatten sie umfingen wie Rabenschwingen. Die Zauberweberin blickte zurück. Zufrieden sah sie, dass Bidayn ihr folgte.
Rausch der Sinne
Tuwatis hatte den ganzen Tag über mit sich gerungen, ob er gehen sollte. Und in der Nacht zuvor hatte er kaum geschlafen. Dieses Weib wusste genau, was sie ihm angetan hatte, als sie ihm den Papyrusstreifen mit der Wegbeschreibung zugesteckt hatte. Er hätte nicht hierherkommen dürfen. Wenn er nur an sie dachte, wurde ihm heiß und kalt. Der Dienst an der Geflügelten Išta verbot ihm nicht, mit Frauen zu verkehren. Aber hier auf Nangog gab es kaum einmal eine Möglichkeit. Der Tempel versorgte ihn mit allem, was er brauchte: gutem Essen, schöner Kleidung, einem angenehmen, sauberen Raum, in dem er die Nacht verbrachte. Nur Geld hatte er keines. Er konnte nie zu den käuflichen Weibern gehen. Und jene Frauen, die in den Tempel zu ihm kamen, hatten alles andere im Sinn, als mit ihm anzubandeln. Zu ihm als Leiter der Archive kam ohnehin selten ein Besucher.