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Er vergaß alles. Wusste nicht mehr um die Geheimnisse, die tief unter dem Tempel der Išta verborgen lagen, um seine glückliche Kindheit oder seinen Stolz, als er die Weihen des Priesters empfangen hatte. Sein Leben war ganz Augenblick geworden. War nur noch dieses Zimmer. Nur noch die beiden Frauen mit ihren fremden Namen, die ihm nun auch entfallen waren, als er dem Rand des Großen Dunkels entgegenglitt.

Zuletzt vergaß er seinen eigenen Namen und verabschiedete sich mit einem langen Seufzer.

Ohne jede Spur

Mit einer Mischung aus Ekel und einer Faszination, die sie sich nicht zu erklären vermochte, betrachtete Bidayn den Leichnam des Priesters. Es war kaum mehr als Haut und Knochen von ihm geblieben. Weniger als eine Stunde war vergangen, seit er das Zimmer betreten hatte. Eine Stunde, in der all die Jahre, die er noch zu Leben gehabt hätte, zerronnen waren.

Bidayn versuchte, all die Erinnerungen zu verarbeiten, die ihren Geist überflutet hatten. Die fremde Sprache, die rituellen Gesänge, das Bild des Mädchens aus seinem Dorf, in das er so schmerzlich und hoffnungslos verliebt gewesen war, dass er sich entschieden hatte, sein Leben Išta zu weihen. Sie wusste, dass Lyvianne ihr einige seiner Erinnerungen vorenthalten hatte. So konnte sie etwa nicht benennen, was in den Tiefen Gewölben verborgen wurde. Nur eine vage Angst beschlich sie, wenn sie daran dachte. Dort war etwas, das den Priester zutiefst erschreckt hatte.

Ihre Meisterin war enttäuscht gewesen, dass sie den Zauber nicht gestärkt hatte, indem sie dem Priester ihre Jungfräulichkeit schenkte. Bidayn hatte die Absicht gehabt, es zu tun, und es doch nicht gekonnt. Zu groß war ihr Ekel vor dem Menschensohn gewesen. Ihre erste Liebesnacht würde sie mit einem jungen Mann verbringen. Mit einem Elfen!

Lyvianne kehrte ins Zimmer zurück. Sie war kurz auf den Hof gegangen, um ihre Sänfte fortzuschicken. »Du musst dich ankleiden«, sagte sie freundlich, wenn auch ein wenig drängend. Bidayn war froh, dass die Meisterin der Weißen Halle sie nicht fragte, was sie bei diesem mörderischen Liebesspiel empfunden hatte. Noch war sie sich über ihre widerstreitenden Gefühle selbst zu sehr im Unklaren. Sie hatte es gehasst, von dem Mann berührt zu werden, aus dessen Mund es mehr und mehr nach Verwesung gerochen hatte. Zugleich hatte sie das Gefühl der Macht berauscht. Wie hatte Lyvianne sich ihm nur so hingeben können! Zum ersten Mal kamen Bidayn Zweifel, ob sie ganz wie Lyvianne werden wollte. Ja, sie wollte Macht. Es war verlockend gewesen, von der Macht der dunklen Magie zu kosten. Aber der Preis dafür war hoch.

Sie würde ihren eigenen Weg finden!

Lyvianne trat in die Mitte des Raums und legte ihre beiden Hände mit weit gespreizten Fingern auf ihr Antlitz. Sie sprach ein Wort der Macht. Augenblicklich stöhnte sie vor Schmerz auf. Ihre Fingerkuppen modellierten Fleisch und Knochen, ließen ihre Erinnerung an Tuwatis Form annehmen. Es dauerte quälend lange, bis sie die Hände vom Gesicht nahm, das nun jegliche Ähnlichkeit mit ihr verloren hatte. Wieder blickte Bidayn in das Antlitz des mürrischen, vor der Zeit gealterten Mannes, der vor einer Stunde dieses Zimmer betreten hatte.

Unwillkürlich sah die junge Elfe zu dem Bett hinüber, wo noch immer der Leichnam des Priesters lag. Beraubt von allem, was ihn ausgemacht hatte, sah er kaum noch menschlich aus, und nun war er in Lyvianne wiedererstanden.

»Nandalee hatte recht! Es gibt diesen Mann im Stein tatsächlich«, erklärte ihre Meisterin. »Der Stein wird in den tiefsten Gewölben des Išta-Tempels verwahrt. Tuwatis hat ihn nur ein einziges Mal gesehen. Er machte ihm Angst. Wir werden selbst hingehen müssen, um zu sehen, was sich im Inneren des Steins verbirgt. Der Priester war nicht Manns genug, um diesem Geheimnis nachzuspüren. Er hat es nur bewacht.«

Bidayn überlegte, ob das nicht vielleicht auch wesentlich klüger gewesen war. Deutlich spürte sie die Angst, die Tuwatis vor diesem, dem geheimsten der Gewölbe, über die er wachte, empfunden hatte. Dennoch legte sie die grobe Wolltunika und den Glockenpanzer eines Kriegers an, die Lyvianne besorgt hatte. Die langen Ärmel und die Beinschienen verbargen ihre Narben. Ihre Meisterin hatte ihr deutlich gesagt, dass sie nichts davon hielt, dass sie Handschuhe trug, aber Bidayn scherte sich nicht darum. Zuletzt steckte sie ihre Haare hoch und setzte den Helm auf. Er war aus Leder gefertigt, auf das einander wie Fischschuppen überlappende gespaltene Eberzähne aufgenäht waren.

Die junge Elfe fragte sich, wer sich so etwas ausgedacht hatte. Sollte es ein Zeichen dafür sein, dass der Träger ein furchtloser Jäger war? Oder waren die Hauer eines Ebers tatsächlich das härteste Material, das die Menschenkinder kannten? Ein schwarzer Rossschweif erhob sich über der Mitte des Helms und fiel weit auf ihren Rücken hinab. Er sorgte dafür, dass der Helm schlecht ausbalanciert und unangenehm zu tragen war. Mürrisch zog sie den Kinnriemen fest und warf sich einen weiten, roten Umhang über die Schulter, wie ihn auch die Hauptleute der Leibwachen des Unsterblichen trugen.

Lyvianne nickte ihr zufrieden zu. »Solange du nichts sagst, wird man dich für ein stattliches Mannsbild halten.«

Die Zauberweberin hatte ihre Verwandlung abgeschlossen. Sie war von der Statur her ein wenig kleiner als Tuwatis und auch weniger füllig, aber das fiel höchstens dann ins Auge, wenn man ahnte, dass etwas nicht stimmte. Sein Gesicht hatte sie geradezu erschreckend gut nachempfunden. Nur von ihrem langen, schwarzen Haar hatte sie sich nicht trennen mögen. Sie versteckte es unter der Pferdehaarperücke, auf der Bidayn Läuse krabbeln sah. Da hatte sie es mit ihrer Verkleidung schon besser getroffen.

»Was hältst du von meiner Stimme?«

Bidayn erschrak, als sie ihre Meisterin sprechen hörte. Auch hier war die Täuschung vollkommen. Und als Lyvianne ein paarmal im Zimmer auf und ab gegangen war, vermochte sie den Gang und die Körperhaltung des Priesters so überzeugend zu imitieren, dass Bidayn sich fragte, wie oft ihre Meisterin schon einem Menschenkind die Gestalt gestohlen hatte. Sie war unübersehbar sehr erfahren in dieser Art der Täuschung.

Bevor sie das Zimmer verließen, nahm Lyvianne die beiden Lampen und schüttete deren Öl über den Leichnam und das Bett. Dann ließ sie einen brennenden Docht auf das Lager fallen und sah ungerührt zu, wie die Flammen sich ausbreiteten und nach dem entstellten Leichnam des Priesters leckten. Das Zimmer begann sich mit dichtem, schwarzem Rauch zu füllen.

»Komm!« Lyvianne griff nach ihrem Arm und zog sie zur Tür. »Gehen wir.«

»Aber das Feuer.« Bidayn sah zu den Balken der Decke hinauf. »Das ganze Haus könnte abbrennen. Vielleicht greift das Feuer sogar auf die Nachbarhäuser über. Die Gassen hier sind eng. Es könnte …«

»Je größer der Brand wird, desto besser«, entgegnete Lyvianne und bedeutete ihr dann zu schweigen.

Sie traten auf die Straße und schritten, ohne einen Blick zurück, zügig voran. Erst als sie schon ein ganzes Stück von dem roten Haus entfernt waren, hörten sie hinter sich aufgeregte Rufe. Doch niemand lief ihnen nach. Niemand brachte den ehrwürdigen Priester und den stolzen Hauptmann an seiner Seite mit dem Feuer in Verbindung.

Später, als sie die endlosen Stufen zum hoch am Hang gelegenen Tempel der Išta erklommen hatten, sah Bidayn eine dichte Rauchsäule über dem Viertel stehen.

Waren Menschenkinder in den oberen Etagen des Hauses gewesen? Waren sie alle rechtzeitig entkommen?

Lyvianne schien sich nicht mit derlei Gedanken zu belasten. Bidayn war klar, warum es nützlich gewesen war, das Feuer zu legen. Es würde nichts mehr übrig bleiben von Tuwatis. Er wäre ohne jede Spur verschwunden. Und Lyvianne musste nicht befürchten, dass ihre Maskerade auffliegen würde. Sie konnte im Tempel ein und aus gehen, wie es ihr beliebte. Und vielleicht vermochte sie sich mit dem Namen und dem Ansehen des Bewahrers der Tiefen Gewölbe sogar in anderen Tempeln Zutritt zu verschaffen. Bidayn wandte sich von den Rauchwolken ab und versuchte, sich gegen jegliche Bedenken zu verschließen. Die Devanthar hatten diesen Krieg heraufbeschworen. Ihnen war zuzuschreiben, was nun geschah!