Warmes Abendlicht ließ die trutzige Zikkurat, die die Luwier Išta zu Ehren erbaut hatten, in allen Tönen zwischen lichtem Gold und Purpurrot leuchten. Eine steile Treppe führte hinauf zum Heiligtum auf der Spitze der Stufenpyramide. Die Mauern waren mit glasierten Ziegeln verkleidet, die das Licht der Sonne einfingen und ihm zu letztem Glanz verhalfen. Seitlich des Tempels lag in einem langen Gebäude, das von wuchtigen, fassartigen Säulen getragen wurde, der Zugang zum Archiv. Bidayn kannte diesen Ort so gut, als habe sie hier ihr halbes Leben verbracht. Die gestohlenen Erinnerungen des Tuwatis verrieten ihr, was in all jenen oberirdischen Kammern verborgen lag, die sie in den vergangenen zehn Tagen nicht hatten betreten dürfen.
Lyvianne sprach gerade mit einem hageren Mann, dessen Antlitz mit mürrischen, hängenden Mundwinkeln von Jahrzehnten asketischen Verzichts geprägt war. Sie erklärte ihm, dass der Unsterbliche einen seiner Hauptleute geschickt habe, um die Tiefen Gewölbe zu betreten und mit eigenen Augen einen jener Schrecken zu betrachten, die dort vor den Blicken der Menschheit verborgen wurden. Bidayn sah das Flackern in den Augen des Priesters. Die Angst vor diesen Gewölben. Eilig winkte er ihnen weiterzugehen und schlug dabei ganz offen das Zeichen des schützenden Horns.
Nebeneinander betraten die beiden Elfen das Archiv und gingen vorbei an jenen Räumen, in denen in endlosen Regalen Tausende Tontafeln lagerten. So viele Stunden hatten sie hier schon vergeblich verbracht. Sie folgten dem langen Flur, der vor einem großen Wandteppich endete, auf dem die geflügelte Išta zu sehen war. Ein junger Priester streckte neugierig aus einer der Türen den Kopf hervor, zog sich aber sofort zurück, als er sah, wie Lyvianne den Wandteppich zur Seite zog. Die Elfe bückte sich und nahm eine der vielen mit bunten Bildern bemalten Öllampen, die vor dem Teppich auf dem Boden standen und die Bidayn bislang für Votivgaben gehalten hatte. Geschenke dankbarer Gläubiger, denen Išta Hilfe in der Not gewährt hatte.
Bidayn tat es ihrer Meisterin gleich, dann schlüpften sie hinter den Teppich und stiegen eine lange Treppe hinab, die sie fort von den Archiven tief unter die Grundmauern der Zikkurat führte. In diesen geheimen Tunnel war die Hitze des Tages nicht gesickert: Grabeskühle ging von den gebrannten Ziegeln aus. Schließlich erreichten sie ein Tor, das mit breiten Eisenbändern beschlagen war, denen der Flugrost die Farbe geronnenen Blutes gegeben hatte. Lyvianne schob den schweren Riegel zurück, und eisernes Schaben hallte von den Wänden des Tunnels wider. Ein Geräusch, als kratze eine Kralle über Stahl. Ohne zu zögern, öffnete Lyvianne das Tor und trat hindurch. Altes Dunkel, das lange von keinem Licht mehr durchdrungen worden war, umfing sie. Die Flammen ihrer Öllämpchen schienen zu schrumpfen und die Wände des Gangs näher zu rücken. Bidayn verstand, warum Tuwatis sich vor diesem Ort gefürchtet hatte. Ihr ging es nicht anders.
Sie erreichten ein weiteres Tor aus grün angelaufener Bronze. In das Metall war ein Relief geprägt, das die geflügelte Išta mit einem langen Schwert zeigte. Triumphierend setzte sie ihren linken Fuß auf einen riesigen Schlangenkopf. Der Bronzeriegel glitt überraschend leicht und leise zurück. Hinter der Tür erwartete sie eine Treppe, die noch tiefer in den Berg hinabführte. Haarfeine Kalkkristalle wucherten in den Fugen des alten Ziegelwerks. Es war jetzt so kalt, dass Bidayn der Atem in einer weißen Wolke vor dem Mund stand. Die Flammen ihrer Öllampen flackerten. Tief unter ihnen, weit entfernt, war ein leises Klirren zu hören. Ein eisiger Luftzug schlug ihnen entgegen, und einen Moment lang quälte Bidayn der Gedanke, dass sie etwas befreit hatten, das nun dem Licht entgegenstrebte. Unwillkürlich tastete sie nach dem Schwert an ihrer Seite. Es war eine schlecht ausgewogene, primitive Waffe, und doch war es tröstlich, den lederumwickelten Griff zu spüren.
Endlich erreichten sie das Ende der Treppe. Bidayn hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Sie vermochte nicht zu sagen, wie weit sie in die Tiefe gestiegen waren. Dafür spürte sie umso deutlicher, dass dies kein Ort für Menschenkinder oder Elfen war. Selbst die Flammen der beiden Öllämpchen schienen sich vor dem zu ducken, das hier im Dunkel lauerte. Sie waren zu winzigen Punkten gelben Lichts geschrumpft, das kaum einen Schritt weit in die Dunkelheit reichte.
Seitlich des Ganges, dem sie nun folgten, erhoben sich dunkle Öffnungen im Fels. Hier hatten die Priester verborgen, was nie ein Menschenkind sehen sollte. Dinge, die den Verstand untergruben, Schriften, die Wahrheiten verkündeten, für die Daia noch nicht reif war. Aus Tuwatis Erinnerungen wusste Bidayn um manches, was hier verwahrt wurde. Es überraschte sie, wovor die Menschenkinder sich fürchteten und was sie für Jahrhunderte wegschließen wollten. Hier gab es nur eines, das wirklich gefährlich war.
Sie erreichten eine dritte Tür. Zersprungene Ketten lagen wie zertretenes Gewürm vor ihr auf dem Boden. Bidayn kniete neben Lyvianne nieder und betrachtete die Kettenglieder. Körniger, roter Rost hatte sich tief in das Metall gefressen. Doch deutlich sah die junge Elfe silbern glänzende Bruchstellen. Sie dachte an das Klirren, das sie oben an der Treppe gehört hatte, und ihr schnürte sich die Kehle zu. Selbst Lyvianne wirkte plötzlich beunruhigt. Leise flüsterte sie ein Wort der Macht, einen Bann, der sie vor dunkler Magie schützen sollte. Bidayn tat es ihr gleich.
Der Riegel dieses schmucklosen Tores war so verrostet, dass sie ihn erst nach einer gemeinsamen Kraftanstrengung lösen konnten. Auch die beiden Torflügel waren verzogen. Sie mussten sich mit den Schultern gegen das Tor werfen, um es Zoll für Zoll aufzudrücken. Ein schreckliches Kreischen begleitete ihre Bemühungen. Bidayn spürte, wie sich tief in ihr Kälte einnistete. Das Tor zu öffnen widersprach jedem ihrer Instinkte. Ohne ihrem Verstand etwas Greifbares liefern zu können, wusste sie, dass es falsch war hierherzukommen. Was hinter diesem Tor war, gehörte wirklich weggeschlossen!
Als die Tür einen Spaltbreit offen war, griff Lyvianne nach ihrem Handgelenk und zog sie zurück. Ihrer beider Gewänder waren mit roten Rostflocken bedeckt, sodass es im Schein der zu winzigen Lichtpunkten geschrumpften Öllampenflämmchen aussah, als würden sie aus zahllosen Wunden bluten.
»Hast du das gehört?«, flüsterte sie.
Außer dem Kreischen des Tores hatte Bidayn nichts vernommen. Jetzt, da sie ihren Kampf gegen Rost und Zeit aufgegeben hatten, die miteinander verbündet diese Kammer unbedingt verschlossen halten wollten, schien es, als habe die Stille an Gewicht gewonnen. Sie lastete auf ihnen.
»Liuvar«, klang es durch die Torflügel zu ihnen heraus. Es war ein Gruß in ihrer Muttersprache. Liuvar hieß Frieden, doch die Stimme klang nach unterschwelliger Bosheit und jahrhundertealter Enttäuschung.
Die Stimme aus der Vergangenheit
Lyvianne spürte die alte, sterbende Macht jenseits des Tores.
Tuwatis war nie weiter als bis zu diesem Tor gegangen, obwohl es zu seinem Amt gehört hätte, alle zehn Jahre die Kette zu lösen und das Gefängnis dahinter zu betreten. Auch sein direkter Vorgänger als Bewahrer der Tiefen Gewölbe hatte es so gehalten. Wie lange dieser Betrug schon währte, hatte Tuwatis nicht gewusst, doch die Tage, an denen er bis hierher hatte kommen müssen, gehörten zu den dunkelsten seiner Erinnerungen. Allein das Tor hatte ihn schon in Angst versetzt. Spürte er doch die Macht des Steins, der dahinter verborgen lag. Als er zum letzten Mal hier unten gewesen war, war die schwere Eisenkette noch intakt gewesen. Und eine Stimme hatte er hier nie gehört. Aber er wusste, dass es eine Stimme gab, die in unbekannten Sprachen raunte, wenn man das Gewölbe betrat. So stand es in den verbotenen Schriften, über die zu wachen Teil seiner Pflichten war.
Lyvianne hatte das meiste dieser geraubten Erinnerungen bis zu diesem Augenblick für dümmliches Priestergeschwätz gehalten. Doch nun schien es, als habe ausgerechnet Nandalee die Spur gefunden, die zur Aufdeckung der Geheimnisse des Weltenmunds führte. Der Mann im Stein mochte tatsächlich etwas mit den verschollenen sieben Meistern zu tun haben. Aber wie hätte er überleben können?