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Lyvianne kämpfte den Schrecken nieder, den ihr die Stimme einjagte, und lauschte. Bedrückende Stille herrschte nun jenseits der Pforte. Sie sah kurz zu Bidayn, die zitternd versuchte, ihre Angst zu überwinden, dann zwängte sie sich entschlossen durch den Spalt zwischen den Torflügeln. Sie war nicht hier hinabgestiegen, um an dieser Stelle aufzugeben!

Das Gewölbe hinter dem Tor war überraschend klein. Es wurde völlig von einem großen, schwarzen Stein beherrscht. Rechteckig, mit sorgsam geglätteten Flächen, erinnerte er an einen aufrecht stehenden Sarg. Lyvianne hörte Bidayn hinter sich in das Gewölbe treten. Es war schneidend kalt hier. Mit hoch erhobener Lampe umrundete sie den seltsamen Stein. Feine Eiskristalle hatten sich auf der spiegelglatten Oberfläche abgesetzt. Es gab keine Fuge, nichts, was darauf hindeutete, dass dies etwas anderes als ein massiver Quader war.

Lyvianne strich über die kalte Oberfläche.

»Schlange …«

Das Wort kam von überall und nirgends. Es war um sie herum wie die Luft, die sie atmete. Und es jagte ihr einen Schauder über den Rücken.

Sie öffnete ihr magisches Auge und betrachtete das Muster der Kraftlinien, die sie umgaben. Ihr war klar, dass dies gefährlich war, denn auf diese Weise öffnete sie sich zugleich auch den Zaubern, die hier gewoben worden waren.

Sofort erkannte sie, wie die natürlichen Linienverläufe verändert worden waren. Jeder Zauber manipulierte die Kraftlinien, die alles durchdrangen. Doch meist war dies nur vorübergehend. Die von den Alben und Devanthar ersonnene ursprüngliche Form kehrte stets wieder zurück. Das magische Netz sorgte für ein Gleichgewicht in der Welt – seine Linien waren wie Grashalme, trat man sie nieder, richteten sie sich doch stets wieder auf.

Hier aber war auf Dauer etwas verändert worden! Das natürliche Muster war in eine neue Ordnung gezwungen worden. Alle Kraftlinien waren zum Stein gerichtet, wie Lanzen, die etwas in Schach halten sollten. Ihr Licht war so hell, dass sie verbargen, was sich im Stein befand. Lyvianne vermochte nur zu erahnen, dass dort etwas war … schwach, flackernd, vergehend.

Sie trat von dem Monolithen zurück. Über ihm war etwas, das erst durch das Verborgene Auge sichtbar wurde: Äste aus himmelblauem Licht. Wie ein kleiner Baum erhoben sie sich und vergingen. Dann war es wieder da, griff nach den Kraftlinien, die den Stein umlagerten.

»Er ist hier …«, flüsterte Lyvianne.

Wieder war das verästelte, blaue Licht verschwunden. Die Elfe spürte, wie sich jedes einzelne Haar an ihrem Körper aufrichtete. Einer der Äste hatte ihre Aura berührt, das Licht aus dem Netz von Kraftlinien, das sie umgab, das ihre Lebenskraft speiste. Sie ahnte, was für eine Art Zauber das war!

»Hast du es nicht gehört? Diese Stimme …« Bidayn trat dicht neben sie. »Lass uns gehen. Hier finden wir keine Antworten. Das ist eine Falle!«

Lyvianne dachte gar nicht daran. Dieser Ort war fremd, geheimnisvoll und ganz sicher auch gefährlich, aber sie musste verstehen, was hier vor sich ging. Wollte lernen, welche Zauber gewoben worden waren und was sie verbargen. »Wir bleiben.«

Sie untersuchte den Stein genauer, stellte ihre Lampe ab und betastete mit beiden Händen die eisige, glatte Oberfläche. Abwechselnd sah sie durch ihr Verborgenes Auge und ihre wirklichen Augen. Nichts!

Sie wob einen Zauber, der den Stein durchdrang, bis er nach kaum zwei Fingerbreit auf unüberwindlichen Widerstand traf. Es war keine Magie. Etwas Natürliches schirmte das Innere des Monolithen ab. Blei?

Sie hörte Bidayn hinter sich nervös auf und ab gehen.

»Liuvar«, erklang wieder die geisterhafte Stimme.

»Bidayn, öffne dein Verborgenes Auge und beobachte das obere Ende des Steins. Sag mir, wenn sich etwas verändert, wenn das blaue Licht stärker wird!«, befahl Lyvianne. Diesmal hatte sie deutlich gespürt, wie eine dunkle Macht nach ihr griff, als der Friedensgruß erklungen war. Etwas, das in ihr Beute sah!

Bidayn war bis zum Tor zurückgewichen. Zwar lief sie nicht schreiend davon, doch sie war noch weit davon entfernt, eine Drachenelfe zu sein, schoss es durch Lyviannes Kopf. Vielleicht würde sie dieses Ziel niemals erreichen. Mit ihrer Begabung könnte sie eine der größten Zauberweberinnen Albenmarks werden, aber es fehlte ihr an Mut und Kaltherzigkeit.

Lyvianne atmete tief ein, dann widmete sie sich erneut mit allen Sinnen dem Zauber, mit dem sie die Beschaffenheit des Steins untersuchte. Sie spürte die feinen Adern, spürte, wo der Stein unregelmäßig gewachsen war und entdeckte einen Schwachpunkt. Entschlossen sprach sie ein Wort der Macht und ließ die verschiedenen Kräfte des Steins gegeneinander wirken. Sie spürte die Spannung, die sich aufbaute. Hörte das feine Knacken im Inneren. Dann kroch der erste Haarriss über die glatte Oberfläche. Das Knacken wurde lauter. Gleich …

»Vorsicht!«, rief Bidayn. »Über dir!«

Lyvianne blickte auf. Das blaue Licht leuchtete nun intensiver. Plötzlich beugten sich seine feinen Äste gierig zu ihr herab, drangen in ihre Aura ein und stahlen von ihrer Lebenskraft. Ihr Verborgenes Auge offenbarte ihr in aller Deutlichkeit, was geschah.

Kälte umfing sie. Sie sollte zurückweichen, doch ihr eigener Zauber hielt sie gebannt. Sie musste den Stein spalten. Immer weiter verästelten sich Risse in der Oberfläche. Gleichzeitig wurde der Stein kälter. Ihre Hand klebte an der Oberfläche fest. Eisiger Schmerz fraß sich tief in ihre Fingerknochen.

Plötzlich war Bidayn hinter ihr. Sie zischte etwas und kappte mit einem Wort der Macht die blauen Äste, die kaum einen Herzschlag später nach der Aura der Novizin griffen. Bidayn schrie auf. Der dunkle Stein zerbarst. Er war nicht massiv. Eine große Platte löste sich, stürzte zu Boden und zerbrach in Hunderte von Splittern.

»Schlange …«

Hinter der herausgebrochenen Steinplatte war eine innere, graue Wand zu sehen. Gleich mehrere der blauen Lichtäste tanzten über das Grau und griffen nun nach Lyviannes Aura, als wollten sie sie vom Stein vertreiben. Sie hörte, wie Bidayn erneut mit Worten der Macht gegen das blaue Licht ankämpfte, um sie zu schützen.

Wie durch einen Zauberbann angezogen, berührte Lyvianne die graue Wand mit den Fingerspitzen. Es war Metall. Vorsichtig übte sie einen leichten Druck aus und spürte, wie es sich nach innen beulte. Blei, ganz wie sie vermutet hatte.

»Dein Schwert, Bidayn.« Sie streckte die Rechte zurück, ohne die Bleiplatte aus den Augen zu lassen. Was immer der Ursprung des blauen Lichts war, das wie ein magischer Sinn nach ihnen tastete, war hinter dieser Platte eingeschlossen. Wenn es einen Mann in diesem Stein gab, dann war sein Licht seine einzige Möglichkeit, mit dem, was jenseits seines Gefängnisses lag, Verbindung aufzunehmen.

»Er ist hier …«, erklang nun die Stimme, deutlicher und kraftvoller.

Bidayn schob ihr den Griff ihres Schwerts in die Hand. Es war eine primitive Bronzeklinge, aber sie musste genügen. Mit angehaltenem Atem setzte Lyvianne die Spitze des schlanken Schwertes auf die Mitte der Bleiplatte und hieb mit aller Kraft auf den Schwertknauf.

Die Bronze durchdrang das Blei. Lyvianne ruckte und zog an der Waffe, um das Loch zu vergrößern. Schließlich nahm sie ihre Hände zu Hilfe und bog das Blech auf. Ein fast kopfgroßes Loch war entstanden. Trockene, abgestandene Luft schlug ihr entgegen.

»Liuvar«, begrüßte sie die unheimliche Stimme, und jetzt floss das blau verästelte Licht durch die neue Öffnung. Es war ein Gefühl, als kratze Dornengeäst über ihre Haut. Friedlich war dieser Empfang ganz und gar nicht. Lyvianne erkannte eine schwache, flackernde Aura im Inneren. Sie war vom dunklen Rot lange genährten Zorns kaum sichtbar. Nur zwei Kraftlinien umspannten den Körper, wo ein ganzes Netz hätte sein sollen. Beide hatten das Blau der Blitze.