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Vorsichtig schob die Elfe ihre Öllampe durch die Öffnung und schloss ihr Verborgenes Auge. Im Inneren des Monolithen kauerte ein Gefangener, die Beine angezogen, den Rücken gerade gegen die Rückwand gepresst. Seine Haut hatte die Farbe dunklen Pergaments. Die Augen waren so tief in den Schädel eingesunken, dass nur noch dunkle Löcher geblieben waren. Seine zusammengepressten Lippen waren kaum mehr als eine schmale Narbe. Der Elf hatte eine hohe Stirn, aus der ein schmaler, dunkel angelaufener Reif sein Haar zurückhielt. Hohe Wangenknochen verliehen seinem Antlitz eine asketische Härte. Sein Haar war schwarz wie Rabenschwingen. Selbst im Tod wirkte er respekteinflößend.

»Du bist also der Mann im Stein, von dem Nandalee gelesen hat«, sagte Lyvianne leise und fragte sich, wie lange er in diesem elenden Gefängnis hatte ausharren müssen. Sie hob die Öllampe noch etwas höher, um besser sehen zu können. Wie eine Kralle lag die ausgedorrte Hand des Toten an dessen Hals. Nun schob Lyvianne den Kopf durch die Öffnung. Nein, die Hand lag nicht an seinem Hals. Er hatte seine Kehle aufgeritzt und die Fingerspitzen hineingeschoben! Wie es schien, hatte er seinem letzten Zauber mit seinem eigenen Blut mehr Macht verliehen.

»Ich hätte dich gerne gekannt«, flüsterte Lyvianne voller Respekt. Was für eine Selbstbeherrschung! »Wer bist du gewesen?«

»Schlange …« Das Geäst blauer Blitze griff nach Lyviannes Kopf. Und in dem kalten Licht sah sie, dass die Innenwände des Gefängnisses mit Zeichnungen und Texten bedeckt waren. Der Tote musste sie mit den Nägeln in das Blei gegraben haben. Über seinem Kopf war das Blei aufgebogen und ein winziges Loch durch den Stein gegraben. Durch dieses Loch musste das blaue Licht gedrungen sein. Hatte er das getan, oder waren es die Devanthar gewesen, die so verhindern wollten, dass er erstickte und einen schnellen Tod fand? Wie es schien, hatte der Gefangene versucht, das Loch zu erweitern. Es waren Kratzspuren auf dem Stein. Haarfeine Schrammen, für die er mit Schmerzen und abgebrochenen Nägeln bezahlt haben musste.

Wie lange hatte er noch gelebt, nachdem er lebendig in Stein und Blei gesperrt wurde? Und auf wen hatte er gehofft? Für wen hatte er seine Nachricht hinterlassen?

»Er ist hier …«

Die Worte jagten Lyvianne einen Schauer über den Rücken. Es war, als spürte er selbst im Tod noch ihre Gedanken und versuchte nun, ihr zu antworten. Er ist hier. Wer?

»Wir müssen weg von diesem Stein, von dieser Stimme«, flehte Bidayn. Die junge Elfe zerrte an ihr, versuchte sie zurückzuziehen. Aber Lyvianne wollte Antworten. Und für manche Antworten musste man einen Preis zahlen. Sie waren hier, in diesem Gefängnis, da war sie sich sicher. Sie presste ihre Wange an das Blei und versuchte zu lesen, was auf der Innenseite der Wand, gleich neben der Öffnung stand.

Wir entdeckten den Zugang, als es zu spät war. Wären wir nur von dort gekommen, statt ihm direkt in seine grausamen Fänge zu laufen. Er hat uns nicht mehr erkannt. Er lebte, aber er war nicht mehr der, den die Alben erschaffen hatten.

Neben die Worte war eine sich windende Schlange geritzt. Oder war es ein schlangenhafter Drache? Nein, sein Kopf war anders. Zu groß. Fremd. Vielleicht ein Fehler in der Zeichnung? Hatte der Gefangene all dies in vollkommener Dunkelheit in die Wände geritzt? Hatten seine tastenden Finger ihm dabei die Augen ersetzen müssen, oder hatte er das blaue Licht heraufbeschworen?

»Liuvar.«

Der Tonfall hatte sich verändert. Es klang weicher. Die blauen Blitze drangen tiefer. Jetzt waren es keine Dornen mehr, die über ihre Haut schrammten. Es fühlte sich an, als würden sich kleine Krallen in ihr Fleisch graben. Lyvianne spürte, wie seine Macht wuchs und Bidayn sie immer weniger gegen ihn abschirmen konnte.

Etwas rann über ihre Oberlippe. Lyvianne leckte danach. Blut! Ihr troff Blut aus der Nase!

»Komm dort heraus!«, flehte Bidayn. »Bitte komm mit mir weg von hier! Deine Aura verlischt!«

»Gleich!« Sie war dem Geheimnis so nahe … nur noch ein paar Augenblicke. Das blaue Licht war plötzlich verschwunden, und so musste sie die Öllampe an den Bleiwänden entlangbewegen, um weiterzulesen. Ihre Augen überflogen den Text. Er war einer der sieben ersten Meister der Weißen Halle gewesen. Ein Drachenelf! Die Himmelsschlangen hatten ihn und seine Gefährten geschickt, und sie waren über den Kraterrand gestiegen. Auch sie hatten den Befehl gehabt, zu Nangog vorzudringen.

Ein leises Knistern ließ Lyvianne den Blick wenden. In den Tiefen der Augenhöhlen des Toten glomm nun ein himmelblaues Licht. »Die Schlange hat uns gestellt …«

Seine Botschaft. Lyvianne begriff. Es war ihre Aura, die den Zauber mit neuer Kraft speiste, den der Sterbende gewirkt hatte. Die Botschaft, die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt war. Sie würde sich wieder zusammensetzen.

Der Zauber, der seine Worte über den Tod hinaus zu ihr trug, vermochte sich selbst zu heilen, wenn ihm neue Kraft zugeführt wurde. Lyvianne war überwältigt. Nie hatte sie von so etwas auch nur gehört. Vielleicht konnten die Himmelsschlangen solche Magie wirken, den Albenkindern aber war sie vorenthalten. Ein Irrtum.

Das Glimmen in den Augen wurde stärker. Die Lippen des Toten, die eben noch geschlossen gewesen waren, klafften nun einen Spalt weit offen.

»Bleib!«

Brennender Schmerz kroch über Lyviannes Haut. Fast hätte sie die Lampe fallen gelassen. Er hatte seine Seele gebunden, sodass sie seinen Leichnam nicht verlassen konnte! Sie wollte ein Wort der Macht sprechen, um sich zu schützen, doch spürte sie, dass ihre eigene Macht sie verlassen hatte. Sie war so schwach, dass die Lampe in ihrer Hand schwer wie ein Felsbrocken wog.

Wieder zog Bidayn an ihr, und diesmal leistete Lyvianne keinen Widerstand mehr.

Das blaue Licht in den Augen des Toten wuchs an. Er lächelte, als Lyvianne vom Stein zurückwich.

»Das Ding da drinnen bringt dich um!«, keuchte Bidayn aufgelöst. »Wir müssen fort von hier. Sofort!«

Lyvianne konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie wusste, es war nicht klug, länger zu bleiben. Aber sie war so nah daran, das Geheimnis zu lösen! Der alte Zauber baute sich wieder auf. Bald würde die ganze Botschaft zu hören sein, die dieser alte Meister ihnen hinterlassen hatte.

Die Öllampe entglitt Lyviannes zitternder Hand. Sie war so schwach. Benommen bemerkte sie, dass die Haut ihrer Hand schlaff und faltig wirkte. Sie blinzelte. Sah noch einmal hin, dann fuhr sie erschrocken mit den Fingern über ihr Antlitz. Sie war gealtert! Der Schock nahm ihr die letzte Kraft. Ihre Beine knickten weg, sie stürzte nach vorn und fing sich mit den Händen an der grauen Bleiwand ab, die unter dem zersplitterten Stein hervorgetreten war.

Dann erinnerte sie sich, und sie lachte unendlich erleichtert auf. Das waren gar nicht ihre Hände, nicht ihr Gesicht. Sie hatte die Gestalt des Tuwatis nachgeahmt! Auch dessen gealterte Haut. Eine Hand wie eine Vogelkralle schnellte aus dem Loch im Stein und schloss sich wie kaltes Eisen um ihren Arm. Blaue Blitze zuckten aus dem Stein. Größer, kraftvoller nun. Sie hüllten sie in ein Gitterwerk aus Licht.

Lyvianne schrie auf vor Schmerz. Hundert Messer stachen durch ihre Haut, und es fühlte sich an, als hielte die Krallenhand nicht ihren Arm, sondern ihr Herz umklammert. Sie spürte, wie ihre Aura verging. Wie ihr die Lebenskraft gestohlen wurde, so wie sie selbst vor wenigen Stunden erst Tuwatis bestohlen hatte.

Ein Schwerthieb ging auf die Krallenhand nieder, verletzte sie aber nicht. Bidayn, halb gelähmt vor Angst, hatte mit ihrem Bronzeschwert zu kraftlos zugeschlagen. Der Arm zuckte zurück durch das Loch in der Bleiwand. Lyvianne wurde hochgerissen. »Wir verschwinden!«, schrie Bidayn.

»Wir hätten niemals hierherkommen sollen«, fügte sie hinzu, als sie Lyvianne durch den engen Spalt zwischen den Torflügeln schob.

»Bleibt!«, erklang es nun herrisch und kraftvoll hinter ihnen, und ein armdicker Blitz raste in Richtung des Tors.

Bidayn schleuderte ihm das Schwert entgegen, das sie noch immer in Händen gehalten hatte. Funken stoben auf. Der Lichtarm verlosch, doch schon erglomm ein neues Astwerk von Blitzen um die Öffnung im Blei.