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»Rette dich … und lass mich zurück«, murmelte Lyvianne. Sie war am Ende ihrer Kräfte und wusste, dass sie die endlose Treppe hinauf zum Licht nicht mehr erklimmen konnte.

Doch Bidayn entgegnete mit einer trotzigen Entschlossenheit, die sie ihr niemals zugetraut hätte: »Entweder gehen wir zusammen, oder wir sterben zusammen.«

Flucht

Bidayn stemmte Lyvianne auf ihre Schultern. Im ersten Augenblick dachte sie, sie würde unter der Last zusammenbrechen. Dann sprach sie ein Wort der Macht. Anders würde sie hier nicht herauskommen. Sie hatten Nandalees Verbot, Zauber zu weben, an diesem Abend schon dutzendmal gebrochen. Und so veränderte sie auch jetzt das magische Netz, stellte sich vor, dass die Luft helfen würde, Lyvianne zu tragen – so wie auch Wasser einen Körper tragen konnte.

Sie spürte ein Kribbeln auf der Haut. Ihre Narben begannen zu brennen. Als sie das letzte Mal so tiefgreifend in das magische Gefüge Nangogs eingegriffen hatte, war sie für immer gezeichnet worden. Doch sie konnte ihre Meisterin nicht zurücklassen. So vermessen Lyvianne auch gewesen war, sich allein dieser unbekannten Gefahr zu stellen, sie waren Drachenelfen, sie ließen nie einen der Ihren zurück.

»Bleib!«

Die Stimme hinter dem Tor hatte sich völlig verändert. Machtvoll war sie. Auch in ihr lag Magie. Sie mussten hier fort. Das Ding aus dem Stein, auf das sie keinen richtigen Blick hatte werfen können, würde entkommen, das spürte sie.

Bidayn kämpfte sich die Stufen hoch. Lyvianne war leichter, doch sie hatte ihre Öllampe zurücklassen müssen und bewegte sich nun in absoluter Dunkelheit. Mit beiden Händen hielt sie den Körper, der leblos über ihren Schultern lag … ihre Meisterin, zu der sie immer aufgeblickt hatte.

Sie wusste nicht, wie weit sie schon war. Angst trieb sie vorwärts, doch jeder Schritt in die Finsternis war ein vorsichtiges Tasten. Einmal hörte sie hinter sich Geräusche. Splitternder Stein. Waren da schlurfende Schritte? Sie sah nicht zurück!

Nach einer Ewigkeit erreichte sie das Tor, das die Geflügelte Išta zeigte. Es stand noch offen. Erst als sie hindurchgetreten war, wagte sie, Lyvianne abzusetzen. Ihre Meisterin zitterte am ganzen Leib, doch sie war bei Bewusstsein. Es war seltsam, sie in so fremder Gestalt vor sich zu sehen. Als Mann, Menschenkind und Priester. Lyvianne schwitzte. Ihre Unterlippe zitterte. Ein Speichelfaden troff ihr aus dem Mundwinkel. Sie war am Ende ihrer Macht. Würde sie je wieder sie selbst werden? Bidayn wusste nicht einmal, ob Lyvianne den nächsten Morgen erleben würde. Sie wusste nur eins, sie mussten fort von hier. So schnell wie möglich!

Plötzlich wehte ein eisiger Luftzug aus der Tiefe herauf. Bidayn erzitterte. Die Angst verlieh ihr neue Kräfte. Hastig wandte sie sich dem schweren Bronzeportal zu und schloss die Flügel des Tores. Als sie den Riegel vorschob, blühten Eisblumen auf der grünen Patina der Ištaflügel. Erschrocken zog Bidayn die Hände vom Riegel zurück.

Der Temperatursturz konnte nur eines bedeuten: Unten wurde ein machtvoller Zauber gewoben. Ein Zauber, der von Kraftlinien und Wärme zehrte. Bidayn zögerte nicht länger. Wieder schulterte sie Lyvianne und setzte ihren Weg fort. Die Angst verlieh ihr neue Kräfte. Der Weg zum ersten Tor, das sie durchschritten hatten, kam ihr diesmal kürzer vor. Dennoch war sie in Schweiß gebadet, als sie es erreichte.

Wieder setzte sie Lyvianne ab. Sie schob den Eisenriegel über die rostigen Bänder.

»Danke«, murmelte die Meisterin schwach. Tuwatis’ Gesicht war leichenblass. Immer noch zitterte seine Unterlippe.

Bidayn schlang sich einen ihrer Arme um die Schulter. Langsam gingen sie auf den Vorhang zu, der den Zugang zu den Tiefen Gewölben verbarg.

Eine Gruppe Priester erwartete sie in dem Gang, an dem die Archive lagen.

»Warum warst du so lange fort, Tuwatis?«

»Woher kommt der kalte Wind?«

»Was hast du getan?«

Sie wurden mit endlosen Fragen bestürmt. Lyvianne machte kraftlos eine abwehrende Geste. »Ich muss zur Hohepriesterin des Lebenden Lichts. Ich brauche ihren Rat.«

»Was ist dort unten geschehen, Tuwatis?«, bedrängte sie ein bärtiger Greis erneut.

»Das Dunkel.« Lyvianne wedelte schwach mit der Rechten. »Räumt das Haus. Lasst niemanden herein. Ich komme wieder. Dann werde ich mich dem Dunkel stellen. Geht nicht dort hinab, wenn euch eurer Leben lieb ist.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, wölbte sich der schwere Wandteppich, und ein eisiger Luftzug zog durch den Gang.

Bidayn konnte spüren, dass Lyvianne das getan hatte. Sie fand wieder zu sich, und sofort verbreitete sie Entsetzen. Die Priester, die sie gerade noch umringt hatten, wichen erschrocken zurück. Einer stürmte sogar laut schreiend auf den Hof hinaus.

»Ihr habt gehört, was der Bewahrer des Tiefen Gewölbes gesagt hat. Macht Platz! Wir sind in Eile.«

Augenblicklich stoben die Priester auseinander. Keiner stellte ihnen mehr Fragen oder wagte auf andere Art, die Autorität des Kriegers herauszufordern, als den Bidayn sich ausgab. So verließen sie ungehindert erst das Archivgebäude und gingen dann auf dem Vorplatz durch kleine Gruppen tuschelnder Priester hindurch, die sich über sie und das Unglück, das sie heraufbeschworen hatten, das Maul zerrissen.

Je weiter sie sich vom Archiv entfernten, desto kräftiger wurde Lyvianne. Bald konnte sie wieder aus eigener Kraft gehen, wenn auch langsam. Es war Nacht geworden, und Bidayn sah weiter unten am Hang ein wütendes Feuer toben. Wie schwarze Scherenschnitte zeichneten sich die Fassaden der umgebenden Häuser gegen den Brand ab. Sie versuchte sich einzureden, dass es nicht dort war, wo sie Tuwatis ermordet hatten, doch sie wusste es besser.

Lyvianne schwieg, obwohl auch sie die verheerenden Flammen gesehen haben musste. Und schweigend folgten sie der Straße, bis sie einen jener Märkte erreichten, die von billigen Garstuben gesäumt waren und auf denen bis tief in die Nacht die Schätze Nangogs verschachert wurden. Dort ließ sich Lyvianne auf einer gestürzten Säule nieder und bat Bidayn, ihr etwas zu essen zu holen. Sie schien sich etwas erholt zu haben, doch Bidayn wusste, dass sie geübt darin war, Dinge zu überspielen.

Die junge Elfe betrachtete ihre Meisterin durch ihr Verborgenes Auge, und alle Masken fielen: Lyvianne hatte ihre Kraft verloren. Ihre Aura war nur noch ein schwaches Flackern.

Sie fand an einer Garstube etwas, das als Hühnerspieß verkauft wurde. Das Fleisch sah nicht schlecht aus. Bidayn nahm es, dazu eine Schale Reis und einen Krug mit Wasser.

Lyvianne aß nicht, sie schlang. Ein wenig Farbe kehrte in ihr fremdes Gesicht zurück. »Mehr«, sagte sie gierig. »Das war gut.«

»Sollten wir nicht zu den anderen gehen?«

»Nicht so! Ich will etwas zu Kräften gekommen sein, bevor ich mich Nandalees Vorwürfen stelle. Wir sind den richtigen Weg gegangen. Der Mann im Stein weiß alles, wonach wir suchen.«

Bidayn war anderer Meinung, aber sie sagte nichts. Sie kannte Lyvianne zu gut. Ihre Meisterin hatte sich verrannt. Sie würde es mit der Zeit von alleine einsehen. Aber ganz gewiss nicht in dieser Nacht.

Sie nahm die leere Reisschale und den Wasserkrug. Der Besitzer der Garstube lächelte breit. »Du bist aber hungrig, Hauptmann.«

Bidayn nickte schweigend. Sie trug nur Männerkleidung und hatte weder ihre Gestalt noch ihre Stimme verändert. Sollte der Garkoch sehen, was er sehen wollte, und so deutete sie wie beim ersten Mal einfach auf die Speisen, die sie haben wollte.

Einen Moment lang legte er den Kopf schief und musterte sie argwöhnisch. »Bist nicht gerade gesprächig, Krieger«, raunzte er, doch dann nahm er ihre Münzen und überließ ihr die Speisen.

Als Bidayn zu der gestürzten Säule zurückkehrte, war Lyvianne verschwunden.

Zwei Schwertmeister

Zwei Stunden zuvor

Voller Wut schob Gonvalon die Tontafeln von sich. Sofort trat der junge Priester an seine Seite.