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»Darf ich Euch weitere Tafeln bringen, Herr?«

Der Elf sah die Angst in den Zügen des kahlgeschorenen Jünglings, was ihn nicht gnädiger stimmte.

»Für heute genügt es mir«, sagte er eisig. Am liebsten hätte er den Priester zum Schwertkampf gefordert, doch der Junge war unschuldig. So wie die Dinge standen, war er nicht einmal auf Nangog gewesen, als seine Kirche die tote Talinwyn schändete. Jene Elfe, die gekommen war, den Unsterblichen Aaron zu töten. Seine Schülerin.

»Wollt Ihr einen der Oberen sprechen?«, fragte der Priester unterwürfig.

»Nein! Du hättest in Kush kämpfen sollen. Du und all deine Ordensbrüder mit den weichen Händen und den kleinen Herzen. Euer Verrat war es, der Tausenden Männern auf der staubigen Hochebene den Tod gebracht hat. Ich war da, es zu sehen. Wo warst du? Ging es dir gut in diesem Tempel? Hat man deinen Bauch mit köstlichen Speisen gefüllt? Musstest du hart mit dem Griffel arbeiten, um neue Tontafeln zu verfassen, als die besten Männer Arams in den Staub von Garagum bluteten? Bald wird der Unsterbliche nach Nangog zurückkehren. Und mit ihm werden die Kushiten kommen. Meine Brüder. Und sie haben nichts vergessen, Priester.«

Gonvalon maß den jungen Mann mit abfälligem Blick. Der Priester war fast einen Kopf kleiner als er. Er hatte ein dümmliches, rundes Gesicht und roch viel besser, als es die Menschenkinder gemeinhin taten. Er wusch sich regelmäßig und betupfte sich unter den Achseln mit Blütenwasser.

»Ihr Priester habt euch den Befehlen des Unsterblichen widersetzt und die Bambusrohre des Fluggestells der Daimonin mit Blei gefüllt. Die Götter allein hätten entscheiden sollen, ob die Daimonin unter den anderen Helden Nangogs im Wind gleitet. Ihr habt euren Willen über den der Götter gestellt, und ihr wagt es noch, euch deren Diener zu nennen?« Der Elf erhob sich abrupt, und seine Schwertscheide schlug so hart gegen den Stuhl, dass dieser zur Seite schlitterte. »In meinen Augen bist du ein Wurm. Und du bietest mir an, mir einen Oberwurm zu rufen? Welchen Gefallen sollte ich daran finden?«

»Ich wollte Euch dienen, ehrenwerter Asa. Ich …«

»Schweig still, Wurm!«, fuhr Gonvalon den Jungen an, der aussah, als wolle er sich am liebsten in sich selbst verkriechen. »Du rührst keine dieser Tafeln über euren schändlichen Verrat an, der den Zwist zwischen dem Unsterblichen Aaron und dem Unsterblichen Muwatta heraufbeschworen hat. Sie sollen auf diesem Tisch liegen bleiben. Morgen werde ich noch einmal die Geschichte eurer Niedertracht studieren. Du kannst nicht ermessen, wie viel Leid ihr über die beiden Königreiche gebracht habt! Du wirst zudem nach anderen Tafeln für mich suchen. Morgen möchte ich über die ersten Helden lesen, denen die Ehre zuteilwurde, über dem Weltenmund zu schweben.« Gonvalon hielt kurz inne und baute sich drohend vor dem Priester auf.

»Suche leidenschaftlich nach dem, was ich von dir fordere. Sorge dafür, dass ich nicht enttäuscht bin, wenn ich morgen wiederkehre, denn ich bin einer der Männer, die entscheiden werden, ob du und deine Oberen dem langen Schlaf übergeben werden.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er mit raschen Schritten den Saal, den ihm die Priester der Geflügelten Sonne seit dem ersten Tag seines Erscheinens ganz allein überließen. Gonvalon war sich bewusst, dass er eben zu weit gegangen war. Seine Worte würden den Oberen zu Gehör gebracht werden.

Der Elf schritt auf einem schmalen Grat. Die ersten Tage nach ihrer Ankunft war er in verschiedenen Masken durch die Goldene Stadt gestreift. Er hatte den Menschenkindern auf den Märkten und in den billigen Garstuben unten am Hafen zugehört, ihre Gespräche belauscht und versucht, sich ein Bild von dieser ungeheuerlichen Metropole zu machen. Dabei war er auf die Geschichte des Duells zwischen den beiden Unsterblichen gestoßen, und auf Talinwyn, die hier nur als Daimonin bekannt war.

Die Intrige der Priester hatte zu vielen Verhaftungen geführt. Juba, der Kriegsmeister Arams, war mit eiserner Härte gegen die Verschwörer vorgegangen, woraufhin Dutzende Priester hingerichtet worden waren. Hunderte hatten Amt und Würden verloren und waren in die Verbannung vertrieben worden. Seit jenen Tagen schien das Reich Aram nicht zur Ruhe gekommen zu sein. Aaron, der Herrscher, hatte ein großes Heer aufgestellt und Muwatta auf der Hochebene von Kush besiegt. Seine Reformen brachten Unsicherheit, und vor einem Mond erst hatte er eine neue Leibgarde aufgestellt, die Kushiten. Angeblich bestand sie ausschließlich aus Fanatikern, die sich auf dem Schlachtfeld hervorgetan hatten.

Daraufhin hatte Gonvalon beschlossen, in die Rolle eines solchen Kriegers zu schlüpfen. Aaron war nicht auf Nangog und seine Leibwache in weiter Ferne, aber niemand im Tempel der Geflügelten Sonne hatte daran gezweifelt, dass er einen seiner Männer schickte, um die Archive einzusehen.

Die Oberen hatten Angst, dass es zu neuen Morden kommen könnte. Sie wollten nicht den geringsten Anlass bieten, den Unsterblichen zu verärgern. Ihnen allen war bewusst, dass sie große Schuld am Krieg zwischen Aram und Luwien trugen. Da zudem bekannt war, dass Aaron gerne Söldner aus aller Herren Länder in seine Leibwache aufnahm, wunderte sich niemand, dass Gonvalon mit einem seltsamen Akzent sprach. Solange der Unsterbliche Aaron nicht tatsächlich in die Goldene Stadt kam, war dies also die perfekte Tarnung. Der Rang als einer der Hauptleute der Leibwache öffnete ihm Tür und Tor.

Seine genagelten Sandalen klackten auf den Stufen, als er zum Hof neben dem Haupttempel der Geflügelten Sonne hinabstieg. Aus den weit geöffneten Bronzetoren des Hauses der Sonne zogen Weihrauchschwaden. Priester mit kahl geschorenen Köpfen und auffälligen gelben Gewändern beobachteten ihn misstrauisch. Die beiden Torwächter, die auf ihren hohen, mit Kuhfell bespannten Schilden lehnten, nickten ihm zu, sodass die roten Federkränze auf ihren Helmen wippten. Alle im Tempel der Geflügelten Sonne hatten schon von ihm gehört. Nach den Maßstäben der Menschenkinder war er eine eindrucksvolle Gestalt. Er hatte sich einen Brustpanzer aus Bronze besorgt, in dessen Vorderseite ein Löwenkopf geprägt war – eine erbärmlich schlechte Arbeit von jemandem, der vermutlich noch nie einen Löwen gesehen hatte. Dazu trug er eine türkisfarbene Tunika und einen schreiend roten Wickelrock, der von gelben Wollfransen gesäumt war. Die Kleidung kratzte und juckte, und der Brustpanzer war zu breit für seine schmalen Schultern und drückte.

Wie viele Söldner in dieser Welt trug er sein Schwert auf den Rücken geschnallt. Er hatte die Scheide der Waffe mit einem roten Lederüberzug versehen, um sie unauffälliger zu gestalten. Ein breiter Schwertgurt mit Silbermünzen geschmückt verlief quer über seine Brust und verkündete jedem, dass er kein armer Mann war. Auf einen Helm hatte er verzichtet. Sein langes, blondes Haar trug er offen, sodass es ihm bis auf die Schultern fiel. Gonvalon war sich bewusst, dass er ohne Bart eine auffällige Erscheinung war. Nur wenige Männer rasierten sich. Doch seine Verkleidung genügte, dass niemand dazu Fragen stellte und die meisten Menschenkinder demütig den Blick senkten, wenn er vorüberging.

Der Elf überquerte eilig den weiten Vorplatz des Tempels, auf dem sich der Markt für Räucherwerk erstreckte. Eine Sinfonie von Gerüchen umfing ihn. Immer wieder war er aufs Neue überrascht, wie vielfältig die Düfte dieser Welt waren. Unter ausgeblichenen Sonnendächern wurden hier die Schätze der Wälder und entfernter Inseln feilgeboten: Schalen mit Hügeln aus langgezogenen Baumharztränen in heller Bernsteinfarbe, Säcke voller getrockneter Blütenblätter, Knospen, Rindenstücke und zu feinem Mehl zerstoßene Körner in satten Erdtönen.

Obwohl der Abend nahte und schon die ersten Öllampen brannten, war es noch voll auf dem Markt. Gonvalon passierte einen Stand, an dem gelbliche Rauchschwaden aus roten Kupferschalen stiegen. Vollmundig verkündete ein kleiner Gewürzhändler dazu, dass der Rauch die Grünen Geister vertreiben würde.

Gonvalon blickte über die Schulter und entdeckte im Gewühl hinter ihm den Glatzkopf, der ihm stets folgte. Heute hatten die Priester ihrem Spitzel immerhin befohlen, unauffällige Kleidung zu tragen. Gonvalon musste über ihre plumpen Versuche, ihm nachzustellen, lächeln. Bisher war es ihm noch jedes Mal gelungen, seinen Verfolger abzuschütteln. Heute würde er ihn für seine Zwecke benutzen.