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Er verließ den Markt und ging ein Stück die Straße der Gerechtigkeit entlang. Eine jener breiten Prachtstraßen, die längs des Kraterhangs verliefen und fast kein Gefälle hatte. Gonvalon mochte diesen Weg nicht, denn wie Perlen an einer Schnur reihten sich kleine Plätze entlang dieser Straße, auf denen sich Richtstätten befanden: Sterbende auf Räder geflochten, Kadaver in goldene Käfige gesperrt, Männer, die mit auf den Rücken gefesselten Händen von Seilen hingen, bis sie sich die Schultern auskugelten. Es war eine Straße der Schreie und der Gaffer, die sich an der Obszönität erfreuten, die die Menschenkinder Gerechtigkeit nannten.

Er war froh, als er eine breite Treppe erreichte, die zu den tiefer gelegenen Stadtvierteln führte. Dort, in den engeren Gassen, hatten sich bereits die ersten Schatten der nahenden Nacht eingenistet. Flüchtig sah der Elf über seine Schulter. Sein Verfolger war ihm wie erwartet noch auf den Fersen. Sollte der Priester nur sehen, mit wem er sich traf. Es würde ihn einschüchtern.

Das Viertel war belebt, und dennoch wirkte es wie die ganze Stadt auf Gonvalon zugleich wie in Trauer. Er hatte dies schon am ersten Tag so empfunden, als sie vom Fluss hinauf zum Haus der Seidenen gestiegen waren. Aber es hatte eine Weile gedauert, bis ihm klar geworden war, woraus das Gefühl resultierte. Es gab fast keine Frauen auf den Straßen. Und er hatte bisher kein einziges Kind gesehen.

Aus den Berichten im Tempelarchiv hatte er erfahren, dass die Frauen der Menschenkinder auf Nangog so gut wie nie schwanger wurden. Dass die Sterblichen hier dennoch siedelten und Städte bauten, konnte er nicht begreifen. Konnte es ein deutlicheres Zeichen geben, dass diese Welt nicht für sie geschaffen war? Dies war der Grund, warum Frauen Nangog mieden.

Ihn allerdings mieden sie nicht! Hier, wo Frauen unter Hunderten wählen konnten, hatte ihn gestern eine dunkelhäutige Schönheit auf dem Platz der Vogelhändler angesprochen. Sie war nur mit einem Umhang aus schillernden Federn und einem kurzen Rock bekleidet gewesen. Ihre zarte Haut hatte sie mit verschlungenen, weißen Schlangen bemalt. Ganz ohne Begleitung war die seltsame Schöne über den Markt geschlendert. Sie musste eine Priesterin oder etwas Vergleichbares sein, denn niemand hatte sie behelligt. Ihr strahlendes Lächeln hatte Gonvalon auf seinem Weg zurück zum Haus der Seidenen innehalten lassen. Und kaum dass er stehen geblieben war, war sie zu ihm gekommen. Die geheimnisvolle Dame hatte ihn in verschiedenen Sprachen angesprochen und wollte ihn einladen, irgendein weißes Tor mit ihm zu durchqueren. Natürlich hatte er höflich abgelehnt. Und doch hatte ihm die Begegnung geschmeichelt.

Er erreichte die Straße der Wolken. Große Häuser mit vergoldeten Dächern säumten seinen Weg. Hier lebten Fernhändler und einige der Lotsen, die die riesigen Wolkenschiffe über den Himmel führten. Ein Warnruf schreckte ihn aus seinen Gedanken. Eine ausladende, blaue Sänfte wurde die Straße hinaufgetragen, und er musste in einen Hauseingang zurückweichen, um den schwitzenden Trägern auszuweichen. Hinter durchscheinenden Schleiern sah Gonvalon den Schattenriss einer Frau. Zwei riesige Leibwächter mit geölten, nackten Oberkörpern, die neben der Sänfte liefen, warfen ihm misstrauische Blicke zu. Dann war der seltsame Tross vorüber.

Wenig später hatte er das Haus erreicht, bei dem er sich verabredet hatte. Zum Eingang führte eine schmale Steintreppe hinab. Er musste lächeln – es würde ihn schon sehr wundern, wenn der Priester ihm hier hinein folgte.

Vor der Tür erwartete ihn ein gedrungener Rausschmeißer mit aufgedunsenem Gesicht. Er betrachtete Gonvalon mit der Herablassung jener, die ihre Schlachten mit dem Maul statt mit Fäusten schlagen. Der Elf strich über seinen mit Münzen besetzten Schwertgurt. »Ich habe gehört, dass man hier auf angenehme Weise sein Silber loswerden kann.«

»Lass dich nicht abhalten.« Der Schläger drückte die Tür auf, und kaum dass Gonvalon einen Schritt über die Schwelle in die dämmrige Eingangshalle getan hatte, lächelte ihn ein Mädchen mit hinreißenden Mandelaugen an.

»Hast du einen Kerl, so rot wie die Abendsonne, hier hereinkommen sehen?«, fragte er unumwunden.

Das Lächeln der Schönheit erstarb. »Dort drüben«, entgegnete sie knapp und wies über ihre Schulter auf den Durchgang zum Innenhof. Auch hier war es dunkel, und so musste Gonvalon eine Weile suchen, bevor er hinter einem Brunnen Nodon entdeckte. Ein Schatten unter Schatten.

Der Vertraute Nachtatems trug einen auffälligen Umhang aus roten Papageienfedern, darunter weite Beinkleider und eine Tunika. Beides ebenfalls in Rot. Es wimmelte in der Stadt zwar von exzentrisch gekleideten Söldnern und Glücksrittern, aber einem, der aussah wie Nodon, war Gonvalon noch nicht über den Weg gelaufen. Obwohl seine Wahl der Maskierung für einigen Ärger gesorgt hatte, hatte er sich nicht umstimmen lassen. Wenigstens trug er heute einen Turban und verbarg sein bleiches Gesicht hinter einem Schleier, sodass seine vollkommen schwarzen Augen nicht auffielen.

»Weißt du, wessen Haus das hier ist?«, zischte Nodon.

»Es gehört dem Narbengesicht«, entgegnete Gonvalon leichthin. »Aber ich glaube nicht, dass Kolja dich in diesem Aufzug als einen der abgerissenen Reisenden erkennen wird, die von der Seidenen in ihr Haus geholt wurden.«

»Warum gehst du dieses unnötige Risiko ein? Das ist dumm.«

»Weil ich hoffe, dass dein Unbehagen, an diesem Ort zu bleiben, dich davon überzeugen kann, mich bei einer noch größeren Dummheit zu begleiten.«

»Glaubst du?« Nodon entfernte mit einer zornigen Geste den Schleier. Seine Lippen waren ein schmaler, harter Strich. Ganz offensichtlich hatte er keinen Sinn für Scherze. Er griff nach einem Becher, den er auf dem Brunnenrand abgestellt hatte. Er trank Wasser an diesem Ort der Sinnlichkeit. »Und wohin willst du, Gonvalon?«

»An den Ort, an den wir eigentlich alle wollen. Ich werde in dieser Nacht in den Weltenmund steigen.«

Nodons Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er stellte den Becher zurück und zog den Schleier wieder vor sein Gesicht. »Mir scheint, es bekommt dir nicht gut, deine Tage in weihrauchverhangenen Tempeln zu verbringen.«

»Es ist eine Frage der Ehre, dort hinabzusteigen.«

»Ich glaube nicht, dass wir dieselben Vorstellungen von Ehre haben.« Nodon wandte sich zum Gehen. Gonvalon packte ihn beim Arm.

»Wir nennen uns beide Schwertmeister. Heute Nacht könnte sich zeigen, wer von uns beiden der bessere ist.« Gonvalon konnte in seinen Augen lesen, dass er jetzt seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. »Hör mir einfach nur zu. Ich erzähle dir eine Geschichte. Sie ist nicht lang. Dann entscheidest du.«

Als Gonvalon seine Erzählung beendet hatte, sah Nodon ihn lange an. Schließlich nickte er. »Es ist tatsächlich eine Frage der Ehre. Ich werde mit dir gehen. Aber vorher verrätst du mir noch, warum du mich ausgerechnet hierherbestellt hast. Es hätte tausend bessere Orte gegeben, um einander unauffällig zu treffen.«

»Das Narbengesicht macht der Seidenen Ärger. Es könnte sein, dass wir ihn bald aus der Welt schaffen müssen. Ich hielt es für klug, sich den Ort, an dem er am häufigsten anzutreffen ist, ein wenig anzusehen.«

Nodon schwieg. Doch Gonvalon wusste, dass auch ihm nicht entgangen sein konnte, dass der Einarmige ihre Gastgeberin schlecht behandelte und sie vielleicht sogar zu Liebesdiensten zwang, auch wenn er das bislang nicht offen ausgesprochen hatte. Lyvianne war da weit weniger diskret gewesen. Sie hatte behauptet, Zarah verkaufe ihren Körper für Geld und Macht, und man solle ihrer Gastgeberin besser nicht trauen.

»Treffen wir uns in einer halben Stunde am Ausgang?«, brach Nodon schließlich sein Schweigen.

Gonvalon wunderte sich, dass er auf alles widerspruchslos einging. Allerding sprach Nodon nie sonderlich viel, und so trennten sie sich, um Koljas Haus zu erkunden.