Gonvalon unterhielt sich mit einigen der Damen. Dass er seine Silbermünzen auf seinem Schwertgurt so offen zur Schau stellte, machte es ihm leicht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Er sah sich die Zimmer an, in die man sich zurückziehen konnte. Waren sie nicht belegt, standen die Türen weit offen. Der Elf versuchte, den Aufbau des Hauses zu begreifen. Wie es schien, bewohnte Kolja einen Raum in der ersten Etage, dicht bei einigen der Zimmer für Besucher. Einmal spürte Gonvalon Nodons bohrende Blicke. Ihm war klar, wie sehr er sich dem Schwertmeister Nachtatems auslieferte. Nandalee würde nichts von dem, was er in dieser Nacht tat, gutheißen. Er hatte nicht mit ihr darüber sprechen können, als er gestern die erste Spur gefunden und sich daraufhin mit Nodon verabredet hatte.
Zur vereinbarten Zeit trafen sie sich am Eingang. Gonvalon hatte Silber für Wein ausgegeben, um nicht in zu schlechter Erinnerung zu bleiben. Vielleicht müssten sie schon bald zurückkehren, und es wäre leichter, wenn sie nicht schon am Eingang abgewiesen würden.
Als sie die Treppe zur Straße hinaufstiegen, entdeckte Gonvalon den Spitzel. Der Glatzkopf zog sich in den Eingang eines Kaufmannshauses zurück, in der irrigen Hoffnung, dass sie ihn nicht bemerkten.
»Du wirst verfolgt?«, fragte Nodon mit verächtlichem Unterton.
»Ich wollte, dass er dich sieht – folge mir, aber lass nur mich reden.«
Außer ihnen dreien war niemand auf der Straße. Die beiden Monde Nangogs standen dicht über dem Horizont. Nicht weit entfernt klammerte sich ein Wolkensammler an einen Ankerturm. Die Decks des Himmelsschiffs waren hell erleuchtet. Musik drang bis zu ihnen hinab. Zu spät erkannte der Spitzel, dass es für ihn kein Entkommen mehr gab. Er hatte darauf vertraut, dass er in den tiefen Schatten des Eingangs verborgen blieb.
»Ein schöner Abend, Priester.« Gonvalon stand nun auf Armeslänge vor dem Spitzel.
»Ehrenwerter Asa, wie konntet Ihr so rasch … äh, was wollt Ihr von mir?«, stammelte der Priester, wobei er sich ungelenk gegen die Tür drückte.
»Hast du jemals von Jonah dem Roten gehört?«
»Nein, ehrenwerter Asa«, ihr Verfolger schüttelte den Kopf. Ein Muskel in seiner Wange zuckte unkontrolliert.
Gonvalon nickte Nodon zu, der neben ihm stand und nun einen Schritt auf den Priester zu machte. »Dies ist der Scharfrichter der Kushiten. Es heißt, er habe am Tag der Schlacht dreiundzwanzig Luwier getötet. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Aber ich selbst habe gesehen, wie er an einem einzigen Nachmittag vierundvierzig Verräter enthauptete.« Gonvalon lächelte maliziös. »Geh nun zurück zu deinen Oberen, und richte ihnen aus, dass ich es als Aufforderung betrachte, Jonah mit in den Tempel zu bringen, sollte mir noch ein einziges Mal einer wie du hinterherschleichen. Ihr wisst, wie empfindlich der Unsterbliche Aaron auf Intrigen seiner Priester reagiert, und ich habe alle Vollmachten, seinem Zorn mit Jonah fleischliche Gestalt zu geben. Nun geh!«
Gonvalon trat zu Seite, und der Priester stürzte zwischen den beiden Elfen hindurch und rannte die Straße hinauf, als säßen ihm die Grünen Geister im Nacken.
»War es notwendig, mich in deine Angelegenheiten hineinzuziehen? Nun kennt er mich«, fragte Nodon eisig.
»Jetzt sag nicht, dass ein Mann, der ganz in Rot durch die Stadt stolziert, Wert darauf legt, unerkannt zu bleiben.«
Gonvalon ignorierte Nodons schlechte Laune. Der erste Schritt war getan, er war seinen Schatten losgeworden. Gemeinsam gingen sie durch schmale Gassen und über steile Stiegen, die immer höher den Hang hinauf bis zu dem Weg führten, der den Rand des Kraters säumte. Gonvalon war tagsüber schon mehrfach hier gewesen, doch die Nacht schien einen Zauber über den Krater geworfen zu haben. Jetzt erschien ihm alles anders: geheimnisvoller, einsamer, bedrohlicher.
Niemand war auf dem Kraterweg zu sehen. Nur einige Wachen, die in weiten Abständen patrouillierten. Entlang des Kamms erhoben sich etwa alle fünfhundert Schritt Wachtürme, hinter deren gezackten Mauerkränzen Feuer brannten. Deutlich waren die Schattenrisse der Krieger zu erkennen, die dort auf einsamer Wacht standen.
Gonvalon kam es so vor, als seien all ihre Blicke ins Innere des Weltenmundes gerichtet. Er wusste, dass in den Tempeln genaue Aufzeichnungen über die fliegenden Toten existierten. Jene Helden, deren Leichen an Fluggerüste gebunden in den Aufwinden des weiten Kraters kreisten. Es wurde Buch darüber geführt, welcher Held wie lange schwebte, und die Zahl der Tage, die er über dem Krater gekreist war, wurde Teil seiner Legende. Doch jetzt hatte er das Gefühl, dass dies nicht allein der Grund für so viel Aufmerksamkeit für das Innere des Weltenmunds sein konnte.
Es schien, als bewachten die Menschenkinder den Abgrund selbst, voller Angst vor dem, was dort hauste. Etwas, das auf all den Hunderten von Tontafeln, die er inzwischen gesehen hatte, mit keinem Wort erwähnt worden war! Man brauchte nicht so viele Wachtürme, um über den Flug der Toten Buch zu führen.
Es wurde kälter, je näher sie dem Weltenmund kamen. Ein frischer Wind wehte über den Kraterrand und zerrte an ihren Umhängen. Gonvalon war oft genug als Meuchler ausgesandt worden, um zu wissen, wann Gefahr drohte. Selten hatte er dieses Gefühl so intensiv empfunden wie in diesem Augenblick. Er tauschte einen Blick mit Nodon und wusste sofort, dass auch sein Gefährte es spürte.
»Gehen wir hinunter?«, flüsterte Nodon. Seiner Stimme war nichts von seiner Unruhe anzumerken.
»Ich habe eine Schuld zu begleichen«, entgegnete Gonvalon beklommen. »Es ist eine Frage der Ehre.«
Im Weltenmund
Nodon bereute inzwischen, sich auf diese Dummheit eingelassen zu haben. Aber wenn er jetzt einen Rückzieher machte, hätte er auf immer sein Gesicht verloren. Ein wenig hoffte er darauf, dass dies nur eine absurde Mutprobe war und Gonvalon seine Pläne im letzten Augenblick aufgab. Knapp eine halbe Meile waren sie mit etwas Abstand dem Kraterrand gefolgt. Sie hielten sich in den oberen Gassen, die parallel zum Weltenmund verliefen. Hier gab es nur noch wenige Häuser, meist umgeben von ausgedehnten Gärten, die sich hinter hohen Mauern versteckten.
Böiger Wind strich durch die Baumwipfel und entlockte den Kronen ein geisterhaftes Wispern. Es war kühl. Sie erreichten eine breite Prachtstraße, die wie eine Schneise die Stadtviertel zerteilte. Kein Menschenkind war zu sehen. Beklommen blickte Nodon die Straße hinauf. Statuen säumten das letzte Stück bis zum Kraterrand.
»Hier ist es.« Gonvalon flüsterte, obwohl es weit und breit niemanden gab, der ihren Stimmen hätte lauschen können. »Diese Straße führt direkt an den Ort, an dem sie ihre Toten im Himmel bestatten.«
Geduckt bogen sie ab und hielten sich am Rand der steil ansteigenden Straße. Die beiden Monde hatten sich hinter Wolken verborgen, doch reichte das Licht der Sterne, um der Nacht den Anblick der grotesken Ungeheuer zu entreißen, denen die Menschenkinder huldigten: Göttern mit Tierhäuptern wie das geflügelte Weib, eine leicht gebückte Gestalt mit Keilerkopf und Krallenhänden oder ein Mann, der in Flammen gehüllt war. Dies waren die Bilder der Mörder, die zur Blauen Halle gekommen waren. Wider alle Vernunft wünschte Nodon sich, eines Tages einem von ihnen gegenüberzustehen. Sie sollten für ihre Verbrechen büßen. Hier auf Nangog würde es beginnen!
Es dauerte nicht lange, und sie erreichten den Kraterrand. Aus der Prachtstraße wurde eine breite Treppe, die ins Innere des Kraters hinabführte. Viel war vom Weltenmund nicht zu erkennen. Schroffe Felshänge verloren sich im Dunkel der Nacht. Hier und dort klammerte sich ein windgebeugter Baum ans Gestein. Nodon glaubte, auch geborstene Säulen zu sehen, war sich aber nicht ganz sicher.
»Vorsicht«, zischte Gonvalon.
Zwei Wachen näherten sich von Westen her auf dem Saumpfad, der sich den Kraterrand entlangzog. Die beiden waren ins Gespräch vertieft. Ab und an blickten sie in die dunkle Wunde, die angeblich bis zum Herzen der Welt führte.