Выбрать главу

Die Elfen wichen zur Prachtstraße zurück und duckten sich in den Schatten eines löwenhäuptigen Götterbildes. Die Wachen sahen nicht ein einziges Mal in Richtung der Stadt. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Krater.

Nodon fragte sich, was sie dort unten erwartete. In den letzten Tagen hatte er oft den Geschichten der Lotsen gelauscht und sich nach den Routen erkundigt, auf denen die Himmelsschiffe mit den wechselnden Winden zogen. Er hatte ein Dutzend oder mehr Angebote bekommen, sich als Söldner einzuschiffen. Dabei hatte er immer wieder von einem gefürchteten Piraten gehört, der den Kauffahrern mehr und mehr zu schaffen machte. Einem Mann, von dem es hieß, er sei bereits einmal von einem der Unsterblichen erschlagen worden und dennoch wieder unter die Lebenden zurückgekehrt. Die Wolkenschiffer hatten eine abergläubische Furcht vor ihm. Man munkelte gar, er könne seine Schiffe gegen den Wind steuern und die Grünen Geister seien ihm zu Diensten. Der Elf fragte sich, ob dieser Tarkon Eisenzunge so wie Nandalee auch von einem der Geister besessen war.

Was er von den Wolkenschiffern aber nicht erfahren hatte, war das Geheimnis des Weltenmunds. Obwohl sie Nangog am besten kannten, wussten auch sie nicht, was dort unten lauerte. Sich jetzt einfach kopflos und unvorbereitet in die Gefahr zu stürzen entsprach ganz und gar nicht seiner Art.

Als die Wachen vorüber waren, eilte Gonvalon erneut zum Kraterrand und dann, ohne zu zögern, die breite Treppe hinab. Nodon folgte ihm widerwillig und sah, dass sie auf eine Felszunge führte, die weit in den Krater hineinragte. Sieben goldene Masten erhoben sich dort, von denen die Banner der sieben Unsterblichen im warmen Wind wehten, der vom Grund des Kraters aufstieg.

Eine niedrige Brüstung umfasste die Felszunge. Nodon trat zu Gonvalon und spähte ebenfalls in den Abgrund.

Es war wenig zu erkennen. Nicht weit unter ihnen wogte Nebel. Der Schwertmeister musste an eine der Geschichten denken, die er unter den Wolkenschiffern gehört hatte. Sie besagte, dass die Welt Nangog aus dem Leib einer Riesin erschaffen worden war, die die Devanthar besiegt hatten. Doch diese Riesin war nicht tot. Nicht einmal die Waffen der Götter hatten ihr das Leben nehmen können. Der Kampf mit ihr hatte über Jahrhunderte gedauert, bis der Ebermann eine List ersann. Die Götter bestrichen ihre Waffen mit einem Gift, das die Riesin Nangog in einen tiefen Schlaf versetzte. Dann banden sie sie mit Magie und begruben ihren zur Kugel gekrümmten Leib unter Bergen und Meeren.

Der Krater aber, an dem die Goldene Stadt erwuchs, hatte seinen Namen bekommen, weil er tatsächlich der Mund der Riesin war. Und trat man an seinen Rand, so konnte man den warmen Atem Nangogs auf seinen Wangen fühlen.

Nodon löste Turban und Schleier, die seine Sicht behinderten. Es stimmte, nun spürte auch er den warmen Atem Nangogs auf seinem Antlitz, der die fliegenden Toten über dem Krater kreisen ließ.

Gonvalon, der sich weit über die Brüstung gebeugt hatte, sah zu ihm auf. »Danke.«

»Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich von dir in deine törichten Frauengeschichten hineinziehen lassen würde«, murmelte Nodon. Er fühlte sich verlegen. Gonvalons Dank kam unerwartet.

»Diese Welt verändert uns alle«, entgegnete der Schwertmeister und schwang sich über die Brüstung.

Nodon folgte ihm. Es ging eine steile Böschung hinab. Die Wolkendecke am Himmel brach auf, und geisterhafte Finger aus fahlem Mondlicht schnitten in die Schatten der Nacht. Obwohl sie auf ihre Deckung achteten, hatte Nodon das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Immer wieder duckten sie sich hinter Felsen oder gestürzte Säulen und kauerten dort im Schatten, wenn die Silberfinger über den Hang tasteten. Es waren nicht die Wächter oben am Kraterrand, die dem Schwertmeister Sorge bereiteten. Er hatte das Gefühl, dass dort, wo der Nebel begann, etwas lauerte. Auch beunruhigten ihn die fliegenden Toten, die in weiten Kreisen über dem Krater zogen. Das alles war nur naiver Aberglaube, ermahnte er sich, und doch wuchs das klamme Gefühl, ins Verderben zu gehen, mit jedem Schritt, den sie weiter den Hang hinabstiegen.

Gonvalon führte sie unterhalb der Felszunge, die in den Krater ragte, geradewegs in die Tiefe. Einst schienen hier Menschenkinder gelebt zu haben. Nodon entdeckte im Spiel von Licht und Schatten halb verschüttete Eingänge zu Höhlen. Sie kletterten über gestürzte Säulen hinweg, von denen einige nachträglich mit Schriftzeichen versehen worden waren. Er vermochte nicht zu entziffern, was sie bedeuteten. Sie wirkten hastig in den Stein geritzt. Waren sie eine Warnung? Und warum waren alle Bauten im Krater verfallen?

Plötzlich hielt Gonvalon inne. Das Mondlicht enthüllte vor ihnen gesplitterte Bambusstangen und Stofffetzen. Gonvalon bückte sich, betrachtete die Überbleibsel des aus dem Himmel gefallenen Helden und schüttelte dann den Kopf.

Als er sich wieder erhob, flüsterte er: »Nimm etwas von dem Bambus mit.« Er selbst hob auch einige der Stangen auf.

Nodon ahnte, was er tun wollte. »Ist das eine gute Idee?«

»Es wird die Aufmerksamkeit von uns ablenken, wenn wir zurückwollen.«

Vielleicht, dachte Nodon, sagte aber nichts. Das Mondlicht enthüllte einen von Grünspan überzogenen Bronzehelm, in dem noch ein Schädel steckte. Dunkle Augenhöhlen blickten den Elfen melancholisch an. Welche Heldentaten diesem Krieger wohl einst ein Grab am Himmel eingebracht hatten? Und gab es noch jemanden, der sich an den Namen des Toten erinnerte? Nodon schob das bleiche Gebein zur Seite und sammelte ein paar armlange Bambusrohre ein. Als er aufblickte, fiel ihm eine Ritzzeichnung auf. Sie war halb unter Moos verborgen. Das Bild eines seltsam verzerrten Vogels, von ungeübter Hand in den Stein gekerbt.

»Komm!« Gonvalon war schon ein Stück tiefer geklettert.

Nodon folgte ihm hastig. Sie durften einander nicht aus den Augen verlieren. Die Grenze zum Nebel war nicht mehr fern.

Schweigend stiegen sie immer weiter hinab, über Geröllzungen und halb verschüttete Wege. Sie fanden zwei weitere gestürzte Helden und sammelten auch dort die größten Bambusstangen aus den zerschmetterten Flugrahmen auf.

Erster Nebel spielte um ihre Füße. Nodon spürte intuitiv, dass sie eine Grenze erreicht hatten. Im wogenden Weiß lauerte etwas! Nicht dass er es sehen konnte. Er spürte es. Seine Schritte wurden zögerlicher. Gonvalon jedoch schien nichts aufhalten zu können. Nur manchmal hielt er kurz inne, um zu der Felszunge hinaufzublicken, die sich hier als fast senkrechte Steilwand über ihnen erhob. Dann murmelte er leise vor sich hin, sah wieder nach vorne in den Nebel.

Dann plötzlich trat er in den Nebel. Die Monde waren eben wieder hinter den Wolken hervorgetreten und tauchten den Krater in ein geisterhaftes Licht. Einen Augenblick war Gonvalon noch als ein Schatten zu erkennen, und Nodon hatte das erschreckende Gefühl, zwei verschiedene Bilder zu sehen, die einander überlagerten: einen Schatten auf Stein und die Gestalt im Nebel. Dann war Gonvalon verschwunden.

Kurz überlegte Nodon, einfach umzukehren. Er mochte Gonvalon nicht. Ja, seine Art, den Frauen nachzustellen und sich immer aufs Neue kopflos zu verlieben, verabscheute er zutiefst. So viel Unglück hatte er damit heraufbeschworen. Wenn er ihn jetzt im Stich ließ, würde der verstoßene Schwertmeister des Goldenen vielleicht niemals aus dem Krater zurückkehren. Allerdings war sein Grund hierherzukommen ehrenhaft. Nodons Hand tastete nach dem Schwertgriff unter dem Federmantel. Der Bambus, den er unter die Arme geklemmt trug, verrutschte leicht. Fast wäre eines der Rohre heruntergefallen.

Er verfluchte sich stumm für seine Torheit. Dann trat er in den Nebel, und die Welt löste sich gänzlich auf. Er spürte festen Boden unter den Füßen, den er nicht mehr sehen konnte, spürte den leichten, warmen Luftzug, der aus der Tiefe aufstieg und der den Nebel in weiten Spiralen tanzen ließ, sodass es plötzlich geschah, dass Nodon den Sternenhimmel wieder über sich sah. Doch es dauerte nur wenige Herzschläge, bis der Himmel wieder vom wogenden Weiß verschlungen wurde.

»Hier. Ich bin hier!« Es war Gonvalons Stimme. Sie schien von überallher zu kommen.