Nodon drehte sich einmal um sich selbst. Er hörte ein scharfes, schabendes Geräusch, und dann flammte ein winziger Funke gelben Lichts im Nebel auf. Der Funke wuchs zu einer Flamme. »Hier«, rief Gonvalon erneut. »Ich habe sie gefunden.«
Nodon ging dem Licht entgegen. Etwas knirschte unter seinen Füßen. Trockener Bambus? Dann sah er Gonvalon. Er hatte eine Fackel aus Bambus und zerfetztem Leintuch entzündet. Die zitternde Flamme schien den Nebel schmelzen zu lassen. Sie hatte eine Insel im Weiß geschaffen. Einen Ort, an dem man auf den Boden blicken konnte.
Halb von grauem Geröll bedeckt lag dort ein zerschmetterter Flugrahmen. Und, mit Lederriemen an die Bambusrohre gebunden, ein schlanker Körper.
Mit Tränen in den Augen durchtrennte Gonvalon vorsichtig mit seinem Messer die Riemen.
Nodon bückte sich, hob eines der Bambusrohre auf. Es war schwerer als die, die er bisher aufgesammelt hatte, und als er es drehte, sah er, dass etwas Dunkles hineingefüllt worden war. Er ließ etwas davon auf seine Handinnenfläche rieseln und rieb es zwischen den Fingern. Bleipulver! Sie hatten Talinwyn gefunden.
Fetzen eines fadenscheinigen, weißen Stoffes bedeckten ihren Leib. Ihre Haut war bleich wie Knochen. Das Fleisch darunter schien dahingeschmolzen zu sein. Seltsam, dass nicht Maden und Aasfresser ihren Leib zerstört hatten, dachte Nodon. Vielleicht hatten die Menschenkinder Talinwyns Körper balsamiert. Es konnte nicht in ihrem Interesse sein, dass die fliegenden Toten an den Fluggerüsten verwesten und in Stücken in den Krater hinabstürzten.
Gonvalon hatte den Leichnam nun gänzlich von den Resten des Flugrahmens geschnitten. Er zog die Tote zärtlich an sich und küsste ihre bleiche Stirn. Die Augen waren eingesunken und hatten nur noch dunkle Höhlen zurückgelassen. Behutsam strich er über ihr weißblondes, staubüberkrustetes Haar.
»Liuvar«, sagte er leise. »Frieden. Möge deine Seele schnell zurück ins Fleisch finden, meine schöne, tapfere Talinwyn.« Gonvalon liefen nun Tränen über die Wangen. Er gab sich ganz und gar seinen Gefühlen hin. Nodon war peinlich berührt, als der Schwertmeister zu ihm aufsah. »Sie ist mit Todbringer hierhergekommen. So wie Nandalee jetzt. Es darf nicht wieder geschehen.«
»Dann lass uns gehen, um das zu verhindern!«
»Nicht, bevor es nicht zu Ende gebracht ist.«
Etwas glitt über sie im Nebel hinweg. Sehr nah! Es war keiner der fliegenden Toten. Sie waren entdeckt!
»Lass das!«, zischte Nodon.
Gonvalon ignorierte ihn und schichtete die Bambusrohre übereinander, die er mitgebracht hatte. »Es ist richtig«, beharrte er. »Und es wird sie von uns ablenken.«
Nodon ließ seinen Bambus fallen und duckte sich. War da ein Schatten im Nebel?
Neben ihm klaubte Gonvalon hastig die trockenen Rohre zusammen. Er errichtete ein niedriges Lager daraus und bettete nun die Segeltuchfetzen des Flugrahmens darüber, der Talinwyn nicht zu den schwebenden Helden getragen hatte.
Da war er wieder, der Schatten. Wie ein großer Vogel. Nodon glaubte, auch ein zischendes Geräusch gehört zu haben. Der Elf war versucht, sein Verborgenes Auge zu öffnen, auch wenn ihnen ausdrücklich verboten worden war, ihre Zauberkunst zu nutzen. War hier ein magisches Geschöpf, dann wäre sein Zauber wie ein Leuchtfeuer in der Nacht. Stumm verwünschte Nodon seinen Gefährten. Zwei Feuer konnten sie nun wirklich nicht gebrauchen.
Der Schwertmeister nahm den Leichnam Talinwyns vorsichtig auf die Arme und bettete sie auf das Lager, das er für sie errichtet hatte. Dann holte er ein Fläschchen mit Lampenöl unter seinem Umhang hervor, öffnete den Verschluss und schüttete das Öl über die Tote. Obwohl die Haut straff auf Talinwyns Schädel lag, ihre Lippen nur noch dünne Linien und die Augen leere Höhlen waren, hatte sie sich einen Abglanz ihrer Schönheit erhalten.
»Ihre Augen waren einmal grün«, sagte Gonvalon leise. »Du hättest sie sehen sollen an jenem Tag, als die Himmelsschlangen sie auf ihre erste Mission schickten. Ihre Augen waren so voller Leben und Leidenschaft gewesen. Im Drachenpalast bei der Jadebucht bin ich ihr zum letzten Mal begegnet.« Gonvalons Blick war abwesend, ruhte auf Bildern, die weit in der Vergangenheit lagen. »Liuvar«, hauchte er und ließ die brennende Fackel fallen.
Die Flammen leckten über das Segeltuch, und binnen eines Herzschlags wuchsen sie zu einer lodernden Flammensäule.
»Fort hier!« Nodon zerrte Gonvalon mit sich. Sein Plan war davon ausgegangen, dass alle Wächter zu den Flammen eilen würden, und sie beide umso leichter entkommen könnten. Nodon war davon nicht überzeugt gewesen.
Selbst Menschenkinder wären nicht so dumm. Sie würden Alarm geben und die Postenkette auf dem Weg am Kraterrand verstärken. Die Wachen mussten nicht zu ihnen hinabsteigen, das wusste Nodon jetzt. Das, was in der Tiefe des Kraters lauerte, würde ihnen die Arbeit abnehmen. Die Menschenkinder würden sich ihnen nur in den Weg stellen, wenn sie es schaffen sollten, aus dem Weltenmund zu entkommen. Ihre einzige Hoffnung auf Flucht war jetzt Geschwindigkeit. Sie mussten entkommen, bevor die Menschenkinder aus der Lethargie endloser Wachnächte aufschreckten. Es durfte nicht zum Kampf kommen! Sie waren Drachenelfen, das würde nicht verborgen bleiben, wenn sie ihre Klingen zogen, und wer Augen hatte zu sehen, der würde es an den Leichen jener erkennen, die den Fehler gemacht hätten, sich ihnen in den Weg zu stellen. Die Art der Wunden und die Zahl der Toten würden eine deutliche Sprache sprechen.
Endlich erwachte Gonvalon aus seiner Starre. Er zog sein Schwert.
»Das brauchen wir nicht«, raunte Nodon, während sie sich den Hang hinaufarbeiteten. Sie hatten fast die Grenze des Nebels erreicht. Die Wachfeuer auf den Türmen waren fahlgelbe Lichter, die mit jedem Schritt nach oben einen Hauch an Leuchtkraft gewannen.
Irgendwo unter ihnen löste sich eine Gerölllawine und ging mit infernalischem Getöse den Hang hinab. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Dann wieder. Und noch einmal. Das war kein Erdbeben. Da bewegte sich etwas. Etwas Riesiges! Hatten sie Nangog mit ihrem tollkühnen Vorstoß im Schlaf gestört?
Nodon glaubte, ein zischendes Atmen zu hören. Der Nebel unter ihnen geriet in Bewegung. Er wurde eingesogen!
Das zu sehen, verlieh Nodons Füßen Flügel. Er berührte kaum noch den Hang, mied die tückischen Geröllfelder nicht mehr, und als er den Nebel hinter sich ließ und die Wachtürme und all die schattenhaften Gestalten auf dem Weg am Kraterrand sah, da erschien ihm diese ganz konkrete, greifbare Gefahr wie eine Erlösung.
Gonvalon hielt sich neben ihm. Wieder erbebte der Hang. Was immer ihnen folgte, war noch tief unter ihnen. Von oben ertönten Warnrufe. Hörnerklang erfüllte die Nacht. Männer mit Fackeln verstärkten die Wachen auf dem Weg. Eine Feuerkugel stürzte den Abhang hinunter – ein Ballen aus pechgetränktem Stroh, der das Dunkel vertreiben sollte.
Wieder erklang der zischende Laut, begleitet von einem Geräusch wie übereinanderschabendes Metall.
Der Nebel streckte einen geisterhaften Arm den Hang hinauf. Unnatürlich schnell. Er verschlang sie, dämpfte den Fackelschein erneut zu mattem Glühen und brachte noch ein weiteres Geräusch mit sich. Flügelschlagen!
Plötzlich versetzte Gonvalon ihm einen Stoß, der ihn von den Beinen riss und der Länge nach stürzen ließ. Etwas glitt dicht über ihm hinweg. Nodon rollte herum, schlug mit dem Schwert in den Nebel und traf etwas, das nicht mehr als ein Schatten war. Ein Schrei, nicht von einem Tier und auch nicht von einem Menschenkind, war die Antwort auf seinen Angriff. Etwas Dunkles fiel neben ihm zu Boden. Nodon griff danach und war im nächsten Augenblick wieder auf den Beinen.
Weiteres Flügelschlagen war zu vernehmen. Keine zehn Schritt entfernt hastete hüpfend eine Feuerkugel den Hang hinab und schnitt eine schmale Gasse durch den Nebel, bevor das wogende Weiß sie doch verschluckte. Krallen stießen aus dem Nebel herab und gruben sich in Gonvalons Umhang. Nodon schnellte vor, stieß sich mit aller Kraft vom Hang ab und holte gleichzeitig zum Schlag aus. Die Krallen verschwanden mit einigen Stofffetzen im grauen Dunst.