Die Treppe war schon ganz nah. Er sprang wieder und blickte sich sogar noch einmal um, nicht aus Dreistigkeit, sondern mit todesverachtender Selbstüberschätzung.
Zwei hoben Gotor hoch. Der Dritte stand mühsam auf und schleppte sich hinterher. In seiner Hand hielt er wie einen Fächer einige Kartonvierecke, als wollte er Karten spielen. Gotor hatte also daran gedacht, Karten zu kaufen.
Viktor wurde kalt. Jetzt gab es keine Rettung mehr.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Erst noch ganz langsam. Zwei seiner Verfolger waren schon an der Treppe. Der dritte hielt dem Gnom mit schmerzverzerrtem Gesicht die Fahrkarten hin.
»Aber bitte ohne Prügeleien in meinem Waggon, werte Herrschaften«, sagte der Gnom voller Abscheu, und Viktor, der schon bereitstand, um dem Ersten, der hinaufkletterte, einen ordentlichen Stoß zu versetzen, wich unwillkürlich zurück. Aber zum Glück wirkte der selbstbewusste Tonfall des Gnoms nicht nur bei ihm.
»Wir wissen Bescheid, Höhlenwurm!«, zischte Gotor wütend. »Wir haben ... Fahrkarten. Zeig ... uns unser Abteil.«
»Bitte folgen Sie mir«, erwiderte der Gnom gleichgültig. Viktor wich rückwärts durch den engen Gang zurück, er hatte nicht die Kraft, seinen Jägern den Rücken zuzuwenden.
Aber keiner machte Anstalten, ihn anzugreifen. Mit stechenden Blicken durchbohrten sie ihn, hielten aber still.
»Bitte, das Abteil.« Wieder ertönte die knarrende Stimme des Gnoms.
Direkt neben Viktors Abteil.
»Ich bitte die Herrschaften nachdrücklich darum, von einer Klärung der Verhältnisse abzusehen.« Wieder sprach der Gnom.
Gotor warf ihm einen verächtlichen Blick zu und zog sich mit den anderen ins Abteil zurück; die Tür wurde mit einem Knall zugezogen.
»Wollen Sie im Gang stehen bleiben? Oder ziehen Sie sich auch zurück?«
Viktor stolperte halb bewusstlos in sein Abteil. Schloss die Tür und schob den wackeligen Riegel vor. Seine Hände zitterten wie die eines langjährigen Alkoholikers.
Schluss aus. Sie hatten ihn aufgespürt. Ihn erwischt. In die Ecke gedrängt. Von hier konnte er nirgendwo hin mehr flüchten, höchstens aus dem Fenster springen.
Der Zug nahm verdächtig schnell Tempo auf.
Viktor saß da und blickte wie gebannt auf die gegenüberliegende Wand. Ihm schien, dass sie jeden Augenblick von einem reißenden Wasserstrahl aufgetrennt werden würde, einem Wasserstrahl so wirkungsvoll wie ein Laserschwert. Vor dem Fenster flog die herbstliche Landschaft vorbei; Viktor fühlte sich wie in einem Käfig.
Würde der mächtige Magier mit seinen Kämpfern hier im Zug wirklich nicht angreifen? Hatten die Worte des Gnoms tatsächlich eine Bedeutung für diese Leute? Oder warteten sie vielleicht auf irgendetwas? Aber auf was?
Ja. Alles hatte mit einer defekten Sicherung angefangen. Und es endete damit, dass er vor unangenehm echten, bösen Zauberern Reißaus nehmen musste.
Und Tel war irgendwohin verschwunden ...
Wie ging es weiter? Sollte er sitzen bleiben und warten, bis Gotor nebenan genug davon hatte und ihn kurzerhand erledigen würde?
»Warum konntest du deinen treuen Diener nicht schützen?«, ertönte die spöttische Stimme des Wassermagiers. In diesem prächtigen Waggon waren die Wände ja wohl kaum so dünn, dass die Geräusche im Nachbarabteil unmittelbar zu hören waren. Vermutlich hatte der Magier zu einem Zauber gegriffen. »Ein einziger Schlag - ist das alles, wozu du fähig bist? Warum hast du uns nicht augenblicklich an Ort und Stelle in Asche verwandelt, wie du es uns angedroht hast? Warum antwortest du nicht?«
Billige Provokation. Ich darf mich nicht darauf einlassen. Diesem Gotor scheint sehr daran gelegen zu sein, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, dachte Viktor, während er sich die schwitzigen Handflächen an seiner Jeans abwischte. Es fragt sich nur, warum? Werden sie mit mir nicht fertig, solange ich mich beherrsche und Ruhe bewahre? Verdammt, ich hätte doch die Wahrheit von dem Jungen erfragen sollen, durchfuhr es ihn kalt. Und nun ist er Sohn des Grenzers gestorben, sinnlos und nutzlos, ohne dem Feind größeren Schaden zuzufügen. Die hiesigen Magier stehen sicher kaum hinter Tel zurück. In ein paar Stunden wird von der Verletzung an der Schulter des einen nichts mehr zu sehen sein. Hätte ich den Jungen ausgefragt, wüsste ich mehr über mich selbst. Es sieht ganz danach aus, als sei ich selbst meine beste Waffe - ich muss nur herausfinden, wie ich mich dieser Waffe am besten bediene. Und ich darf keine Schwäche zulassen. Wenn ich nur einmal zusammenzucke oder Mitleid empfinde, ist der Kampf verloren.
Gotor wiederholte hinter der Wand weiter unaufhaltsam seine Phrasen. Aber Viktor hörte nicht mehr hin. Bewahr sensei[8] immer wieder gesagt ... Viktor bedauerte es, dass er in dem einen Jahr Karatetraining nicht über eine oberflächliche Freizeitbeschäftigung hinausgekommen war. Er erinnerte sich nur noch dunkeclass="underline" »Adrenalin an sich ist eine starke Waffe, setze sie nicht früher und nicht später ein, als gut ist.«
Ruhig Blut. Noch war er am Leben, oder nicht? Es sollte sich darüber freuen. Und wenn der Magier des Wassers ihn hier wirklich töten wollte, hätte er das schon versucht. Für seine Verfolger war es unnötig, auf die Dunkelheit oder irgendwelche menschenleeren Streckenabschnitte zu warten. Hier gab es keine Polizei, keine Staatsanwälte oder Strafverteidiger. Es gab nur die Strafkommandos der Clans; diese waren Ermittler, Gerichtsbarkeit und Strafvollzug gleichzeitig. Berufung gegen ihre Urteile konnte man nicht einlegen. Und dennoch warteten sie.
Nachdem sie ihn nun schon eingeholt hatten, war es einfacher, ihn aus der Distanz zu verfolgen und zu warten, bis er sich nicht mehr im Schutz der Route befand; dann würden sie zuschlagen.
Hatten sie Angst vor ihm? Oder brauchten sie etwas von ihm? Wollten sie womöglich, dass er sie von sich aus angriff, im Zorn den Kopf verlor? Unsinn, er war kein Schwarzenegger und kein Van Damme. Und erst recht nicht Mike Tyson. Es ging um etwas anderes. Aber um was?
Er wusste keine Antwort.
Er konnte sich lange nicht entschließen, das Abteil zu verlassen. Erst als er so dringend auf die Toilette musste, dass er es nicht mehr aushielt.
Im Gang traf er auf einen von Gotors Kämpfern und wäre beinahe zurück ins Abteil gestürzt, aber dieser streifte ihn
Danach musste er wieder warten.
Viktor dachte nicht ans Essen. Sein Bewusstsein suchte verzweifelt nach einem Ausweg; aber wie sollte er den finden? Seine Situation war vergleichbar mit dem Versuch eines Spielers, eine Schachpartie gegen Kasparow zu gewinnen, obwohl er gerade mal einen Bauern von der Königin unterscheiden konnte. Viktor blieb einfach sitzen und starrte dumpf vor sich hin.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Wenn nun in dieser Welt das Wort viel mehr bedeutete als nur eine einfache Erschütterung der Luft, gab es hier vielleicht einen wahren Gott? Eine höhere Instanz, vor der alle Streitereien und Zwiste und alle Wunder lachhaft wurden ... Oder hatte Tel doch Recht, und es gab keine Parallelwelten? Es gab nur die eine einzige Welt, die im großen Urknall entstanden war, und alles hing vom jeweiligen Blickwinkel ab.
Genau der richtige Zeitpunkt für abstrakte Überlegungen, dachte Viktor und musste lächeln. Neben dir, hinter der Sperrholzwand sitzen vier kaltblütige Mörder. Denk nach, wie du dich retten kannst!
Aber worüber sollte er noch nachdenken? Sobald er ausstieg, würden sie ihn fertigmachen. Und dann wäre es vorbei damit, dass fanatische Verehrer sich auf das erstbeste Zeichen seinerseits in den Tod stürzten. Gib es doch zu, dachte Viktor, gib doch zu, es fühlt sich nicht schlecht an, wenn jemand bereit ist, für dich zu sterben. Es ist doch ganz angenehm, Viktor, sei ehrlich! Zu befehlen, sich andere zu unterwerfen und deren wilde Ergebenheit und ihre
Leere, zusammenhangslose Worte. Von der Leinwand klangen sie eindrucksvoll, und auch in Romanen las man sie gerne und begeisterte sich dabei für den Helden und seinen Wagemut, fieberte mit ihm. Aber wenn sie einen plötzlich selbst betrafen ... Viktor presste das nutzlose Schwert in seiner verschwitzten Hand. Elfenstahl, was sollte er damit anfangen? Eine Wasserpeitsche würde er damit kaum zerschlagen können.
8
SENSEI »Lehrer« bzw. »Meister«, wird in den japanischen Kampfsportarten häufig als Anrede für den Lehrenden oder Trainer verwendet.