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Gotor war verstummt, vermutlich ruhte er sich aus. Es war Stille eingetreten. Nur das Klopfen der Räder und das gelegentliche Pfeifen der Dampflok waren zu hören. Viktors Abteil lag auf der Windseite, und zerzauste Rauchschwaden glitten an seinem Fenster vorbei. Der Donnerpfeil schien ein Verwandter des Roten Pfeils[9] auf der Anderen Seite zu sein; er fuhr zügig und fast ohne Halt und wechselte lediglich an wichtigen Verkehrsknotenpunkten die Lokomotive, um sich so die Zeit für das Nachfüllen von Kohle und Wasser zu sparen.

Die Stunden vergingen. Bald würde es Abend werden, und Viktor saß noch immer in einer merkwürdigen Starre da und konnte sich zu nichts entschließen. Sein ursprünglicher Plan, Tel einzuholen, erschien ihm inzwischen wie vollkommener Wahnsinn. Wie und wo sollte er sie ausfindig machen? Er würde sich selbst in die Hände der Magiermörder begeben, und damit wäre alles vorbei. Was hatte Rada gesagt? Entweder in Luga oder in Rjansk würde er den anderen Zug, Vier Rauchwolken, einholen? Irgendwie kamen ihm die Namen der Städte bekannt vor ...

Viktor musste all seinen Mut zusammennehmen, um die Nase aus dem Abteil zu strecken. Zum Glück trieb sich der Gnom im Gang herum.

»Hören Sie, Wertester ...«, begann Viktor, der sich diese alberne Anrede einfach nicht verkneifen konnte. »Wann kommen wir in Luga an?«

»Jetzt gleich«, brummte der Gnom. »Eine halbe Stunde noch, dort haben wir zehn Minuten Aufenthalt.«

»Und Vier Rauchwolken?«

»Den werden wir in Luga überholen, guter Mann. Von Luga fahren wir ohne Zwischenhalt nach Rjansk, dabei wird der Weg vor uns endlich frei sein. Es ist kein Wunder, dass wir ihn überholen, denn Vier Rauchwolken bleibt an jedem Baumstamm stehen. Was wünschen Sie noch zu wissen, guter Mann?«

Viktor kehrte in sein Abteil zurück und verschloss sorgfältig die Tür. Luga bedeutete eine Chance. Eine kleine Chance, die er nicht verstreichen lassen durfte. Die Clans lebten, Jaroslaw zufolge, im Süden, am Warmen Ufer. Hatte sich das Mädchen am Ende dorthin aufgemacht? Vielleicht war sie ja wirklich nicht unterwegs ausgestiegen ... Aber wie sollte er sie finden und dabei noch seine Verfolger an der Nase herumführen?

Wahrscheinlich hätte Conan der Barbar oder der Lord vom Planeten Erde[10] oder Olmer aus Dejlo[11] in einem solchen Fall genau gewusst, was zu tun war. Aber Viktor spürte nur zu gut, wie wenig er sich zum Helden eines märchenhaften Abenteuerromans eignete. Es war wie verhext, aber ihm fiel einfach nichts Taugliches ein. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich aufs Zuverlässigste überhaupt - den guten alten, unbesiegbaren Zufall - zu verlassen.

In diesem Moment pfiff der Donnerpfeil aus voller Kehle und begann das Tempo zu drosseln. Draußen zogen jetzt Vororte vorbei, die sich kaum von den Vorstädten am Rand von Moskau Mitte der siebziger Jahre unterschieden. Inmitten von entlaubten Gärten befanden sich einstöckige Holzgebäude: mit Zierleisten verkleidete Blockhäuser in bunten Farben, von denen der Anstrich zum Teil schon stark abblätterte. Viktor wunderte sich unwillkürlich, nach allem, was er sehen konnte, war es zwar herbstlich, aber noch sehr warm. In jedem Fall war es nicht unangemessen, nur mit einer Jacke bekleidet unterwegs zu sein.

Ein Pumphaus aus Stein glitt vorbei, ein Bahnwärterhäuschen, der Zug rumpelte über schlecht gestellte Weichen.

»Luga ... Luga ...«, erklang es im Gang. »Zehn Minuten Aufenthalt.«

Viktor erblickte sofort Vier Rauchwolken, diese wundersame Lokomotive, die vier Schornsteine hatte wie der Kreuzer Warjag[12] und schäbige Waggons hinter sich herzog. Es sah ganz so aus, als sei der Donnerpfeil nicht umsonst ein teurer Zug.

Mit dem Schwert unterm Arm und schweißüberströmt trat Viktor in den Windfang hinaus. Vom Clan des Wassers war weit und breit nichts zu sehen.

Die zwei Züge standen nebeneinander; auf dem Bahnsteig dazwischen brodelte eine dichte Menschenmenge, Reisende und kleine Händler; eine Alte pries mit lauter Stimme ihre unvergleichlichen Zaubertränke mit zeitlich begrenzter Wirkung an, und zwar solche, die fürs Verlieben, und solche, die fürs Entlieben sorgten; und das wiederum jeweils »nur für einen halben Tag, also gerade richtig für eine Reise, sicher nicht für immer«. Viktor beobachtete mit Erstaunen,

Während er auf dem obersten Trittbrett stand, blickte er sich immer wieder um. Er hatte Angst, die Abteiltür der Magier unbeobachtet zu lassen. Sein ungeschützter Rücken schrie geradezu vor Furcht; gleichzeitig waren seine Aussichten, Tel rein zufällig in der Menge zu entdecken, genaugenommen gleich null.

»Entschuldigen Sie schon, guter Mann ...«, ertönte aus einer Nische in der Wand die Stimme des Gnoms. In seiner haarigen Pfote hielt er einen gewaltigen Teekessel. Er schob Viktor zur Seite und kletterte die Treppe hinunter, ehe er sich mit wichtiger Miene zwischen den Leuten durchdrängelte und in seinem merkwürdigen Gang auf das Bahnhofsgebäude zutrottete.

Der ideale Augenblick für die Magier, mich anzugreifen, dachte Viktor. Er packte sein Schwert fester, stand aber weiter nur unschlüssig da, den Blick auf den Bahnsteig gerichtet. Tel in dieser Menschenmenge zu finden konnte eine Ewigkeit dauern.

Über dem Waggon hingen nackte schwarze Zweige. Eine riesige, weit verzweigte Eiche hielt sich hartnäckig neben den Gleisen, ungeachtet aller ökologischer Dürftigkeit ihres Standorts.

Viktor hatte keine Ahnung, was ihn veranlasste, den Blick zu heben. Und zwar nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor etwas leicht auf dem Zugdach aufschlug - nicht stärker als ein Stück Rinde oder ein kleiner Ast. Er erstarrte und zog sich instinktiv in die Tiefe des Windfangs zurück,

Leise quietschend glitt das metallene Zugdach zur Seite, und in dem Loch erschienen ein Paar Stiefelchen, gefolgt von einer weiten, tief heruntergezogenen dunkelblauen Pumphose, wie sie ein Saporoscher Kosak[13] auf der Bühne trägt, dann ein weißes Hemd und schließlich kurze rote Haare. Der goldene Lack auf den Fingernägeln glänzte.

Einen Atemzug später landete Tel weich auf dem Boden. In der Hand hielt sie einen dicht geschlossenen Korb.

»Mach das Dach zu«, flüsterte sie kaum hörbar und gerade so, als hätte sie Viktor vor wenigen Minuten zuletzt gesehen. »Gleich kommt der Gnom ... wir sollten den Alten nicht in Schwierigkeiten bringen ...«

In Gedanken klappte Viktor seinen vor Verwunderung offen stehenden Mund zu, der auch nur in Gedanken offen stand, und tat, wie Tel ihn geheißen hatte. Die metallene Abdeckung ließ sich erstaunlich leicht und geräuschlos wieder zuschieben, ganz so, als liefe sie auf gut geölten Schienen. Als Viktor das Abteil betrat, war Tel schon dort. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Plüschsofa und breitete auf dem Tischchen einen derart appetitlich anmutenden Imbiss aus, dass Viktor augenblicklich einen Stich im Herzen verspürte. Und sein tiefer, aber einem echten Mann unwürdiger Wunsch, dieser kleinen Kröte gehörig den Hintern zu versohlen, löste sich in Luft auf.

»In Rjansk müssen wir aussteigen«, sagte sie fast im Flüsterton, während sie ihre schneeweißen Zähne in das weiche Fruchtfleisch einer grünlichen Frucht grub. »Auf den Donnerpfeil haben jetzt zu viele Leute ein Auge geworfen.«

»Aha ... äh ...« Mehr fiel Viktor dazu nicht ein.

Tel tat sehr geschäftig und hielt ihm in ihrer pathetisch ausgestreckten Hand, wie in einer rhetorischen Geste, ein ordentliches Butterbrot mit einer dicken Scheibe Schinken und Salatblättern hin.

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9

ROTER PFEIL Schnellzug auf der Strecke Moskau-Sankt Petersburg. Verkehrt seit 1931. Täglich um 23.55 Uhr verlässt gleichzeitig ein Zug Moskau und ein weiterer Sankt Petersburg und erreicht genau acht Stunden später die jeweils andere Stadt. Erster russischer Zug mit Schlafwagen.

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10

LORD VOM PLANETEN ERDE Russische Fantasy-Trilogie von Sergej Lukianenko, noch nicht auf Deutsch erschienen.

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11

OLMER AUS DEJLO Starker, mutiger und finsterer Held in Nick Perumows literarischem Debüt »Ring der Finsternis« von 1993.

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12

KRIEGSKREUZER WARJAG Gehörte von 1901 bis 1904 zur Russischen Flotte im Stillen Ozean und ging im Russisch-Japanischen Krieg unter. Bekannt für sein Aussehen mit den vier riesenhaften Schornsteinen.

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13

SAPOROSCHER KOSAK bezieht sich auf die volkstümliche, komische Oper Ein Saporoger hinter der Donau von 1863 von dem ukrainischen Komponisten Semjon Gulag Artemowski.