Der Fluss war breit. Natürlich nicht wie die Wolga, aber ...
Und was war das?
Die Brücke erhob sich in einem stählernen Buckel über den Fluss. Die Gleise verliefen in einer Höhe von fünfzig Metern auf schmalen Stützen aus Beton oder Stein. Im letzten Tageslicht glitzerte das Wasser silbrig, und es schien, als wäre der Wasserstand unter der Brücke nicht tief.
»Tel ...«
Ja, das Mädchen hatte von einer Brücke gesprochen ... Aber beim Anblick dieser alptraumhaften Ingenieurskonstruktion vergaß Viktor sogar für einen Augenblick Gotor und seine Leute. Was hatte Tel hier vor? Ein Fluss ... der die Kräfte des Wassers bündelte ... und hier wollte sie den Kampf aufnehmen?
»Was hast du dir da ausgedacht?«
Statt einer Antwort blickte Tel vielsagend zum Fenster hinüber.
»Sollen wir etwa da rausspringen?« Viktor stöhnte.
»Pssst!« Tel drückte ihren Zeigefinger gegen die Lippen. Das Gold ihres Lackes glänzte. »Genau das. Sie werden beide Ausgänge bewachen. Wahrscheinlich tun sie das bereits. Es bleibt uns nur dieser eine Weg offen. Gleich bricht die Gegenzeit ihrer Magie an, und sie können nicht mit voller Kraft kämpfen.«
»Wir werden zu Tode stürzen«, sagte Viktor hilflos. »Ob mit oder ohne Magie.«
»Wir werden nicht zu Tode stürzen«, unterbrach ihn Tel. »Nicht, wenn Gotor uns nicht bemerkt. Glaubst du, es ist so einfach, Wasser in Eis zu verwandeln? Selbst für einen Magier wie ihn.«
Offenbar zog sie es vor, die Tatsache zu ignorieren, dass man durchaus nicht unbedingt auf Eis aufprallen musste, um bei einem solchen Sprung zu Tode zu kommen.
»Mach das Fenster auf!«, befahl Tel. Viktor gehorchte. Es war sehr fest geschlossen. Die Gnome kümmerten sich wirklich gewissenhaft um alles. Aber schließlich musste er den Griff nur ein wenig zur Seite ziehen, damit die Scheibe überraschend leicht nach unten glitt. Eine Mischung aus Fahrtwind und Dampf drang ins Abteil.
Der Donnerpfeil eilte mit voller Geschwindigkeit auf die Brücke zu. Ein Bahnwärterposten zog vorbei, ein steinernes Türmchen, das von zwei mit Arkebusen bewaffneten, finster dreinblickenden Gnomen bewacht wurde. Ein dritter, der eine Armbrust in den Händen trug, war dabei, ein kleines, dickes Pferd zu besteigen. Anscheinend wurden die Brücken in dieser Welt genauso bewacht wie jede beliebige Brücke auf der Anderen Seite, etwa die über die Msta.[15]
Das lebhafte Silber der Wasseroberfläche glitzerte weit unter ihnen. Mit Erleichterung stellte Viktor fest, dass keine Schutzgeländer oder zusätzlichen Querstreben an der Brücke angebracht waren. Nur die beiden eisernen Bänder der Gleise. Wenigstens würden sie nicht schon auf dem Weg nach unten gegen irgendwelche Stahlträger prallen.
Und plötzlich wurde von außen an der Tür gerüttelt. Auf dem Gang erklangen gedämpft wütende Stimmen.
»Jetzt springen wir, Viktor!« Tels Stimmchen ertönte neben ihm. »Los jetzt, wir müssen springen! Mach schon, sonst sterben wir!«
Mit einem Satz stand sie auf dem Tischchen neben dem geöffneten Fenster.
»Lass das Schwert nicht fallen!«, wies sie ihn noch an. »Komm jetzt, ich springe als Erste!«
Schon stürzte sie sich hinaus. Viktor hatte den Eindruck, dass der Wind ihren zarten Körper erfasste und mit einem Ruck zur Seite zerrte.
An der Tür krachte es. Unter ihr liefen dunkle Rinnsale hindurch.
Viktor kniff die Augen zusammen. Das Wichtigste war, vertikal ins Wasser zu tauchen.
Außerdem vorzugsweise nicht mit den Füßen voraus. Im wörtlichen Sinne. Sonst würde aus dem wörtlichen Sinn womöglich plötzlich ein übertragener Sinn.
Viktor fluchte und stürzte sich aus dem Fenster.
Er hatte etwa fünf Sekunden zur Verfügung. Ein erfahrener Magier vermochte eine ganze Menge in dieser Zeit. Und erst recht ein Magier des Wassers.
Aber Tel hatte doch irgendetwas über das Springen von einem Felsen gesagt ...
Er fiel und hielt dabei sein Schwert fest. Er fiel ganz und gar nicht mit dem Kopf voraus, sondern wie ein Sack Mehl, wobei er die ganze Zeit verzweifelt mit den Beinen strampelte.
Von unten kam ihm die Oberfläche des Flusses plötzlich entgegen wie ein wundersamer Höcker, der sich in die Höhe hob. Das Silber blies sich auf und explodierte, wie ein ungeheuerliches Geschwür; Viktor blickte unwillkürlich nach oben (kaum zu glauben, dass die Zeit dafür ausreichte!): Vor dem Hintergrund des Abendhimmels hoben sich starr die überstreckten Silhouetten ihrer vier Verfolger ab.
Warum bin ich noch am Leben? Und warum falle ich so lange, fast wie Alice in die Kaninchenhöhle?
Der Wasserhöcker begann sich zu öffnen, ein gewaltiges Ungetüm zeichnete sich ab, das vor allem aus einem riesenhaften Schlund und zwei reißenden Kiefern zu bestehen schien. Viktor versuchte sich krampfhaft in der Luft zu drehen ... und die Luft unterstützte ihn zu seiner Überraschung gehorsam. Sein Körper fiel noch, aber langsam, ganz langsam; seine Hände schienen weißglühend geworden zu sein, und sein Schwert war ein grell leuchtender Schweif aus grünlichem Feuer.
Oder kam ihm das alles nur so vor ...
Es platschte. Das eisigkalte Herbstwasser des Flusses nahm Viktor auf. Und augenblicklich spürte er einen bohrenden, reißenden Schmerz - als ob er in riesenhaften Schraubzwingen steckte.
Er wedelte mit den Armen: nach oben, nur nach oben, ans Licht, an die Luft!
Die schwere Pranke des Wasserungetüms drückte ihn wieder zurück in die Tiefe. Von unten durch den grauen Schleier
Er verschluckte sich, spürte, wie das plötzlich hart gewordene Quellwasser seinem Körper zusetzte, und fuhr doch fort, nach oben zu strampeln.
Und im gleichen Moment kam es über ihn: Wie konnten sie es wagen? Wie konnten diese armseligen Zauberer sich erdreisten, sich ihm in den Weg zu stellen? In den Weg des Drachentöters? Auf dem Bahnhof, als die Söhne des Grenzers einer nach dem anderen für ihn starben, war es ihm ja nicht gelungen, jene gewaltige Kraft freizusetzen, aber vielleicht würde es ihm jetzt ...
Das Wasser drückte und presste ihn mit solcher Gewalt, als wolle es um jeden Preis in sein Inneres eindringen, Haut und Muskeln von seinen Rippen reißen, seine Lungen zermalmen und Viktor in das jämmerliche Abbild eines ausgenommenen Fisches verwandeln. An der Oberfläche nahm das Wasser die Konsistenz von trocknendem Klebstoff an; offenbar wollten sie Viktor einspinnen in dem dicklichen Wasser, wie eine Fliege in Bernstein, und ihn dann diesem - wie hieß er gleich? - Torn bringen.
Das würde er nicht zulassen! Hörst du mich, Gotor vom Clan des Wassers! Euer Zorn ist meine Waffe! Ist Feuer in meinen Händen, Wind in meinem Rücken, Erde zu meinen Füßen!
Wehe dir, Wasser, wenn du mir Schaden zufügst! Dann werde ich alle deine Wege mit meinem Feuerodem austrocknen, und alles, was in dir lebt, wird sterben, und alles, was du nährst, wird sterben, und du selbst wirst sterben!
Eine Hitzewelle erfasste Viktor. Um seine Arme herum begann das Wasser augenblicklich zu kochen und zu verdampfen;
Es war nicht sehr angenehm, wie gewaltige Dampfwolken von seinen Armen in die Höhe schossen. Ein Gefühl wie in einem Kesselhaus, in dem die Hauptleitung geplatzt war. Eingehüllt in eine weiße Wolke, fand Viktor sich an der Wasseroberfläche wieder. An der rechten Schläfe traf ihn augenblicklich eine Wasserpeitsche.
Genauer gesagt, sie sollte ihn treffen. Aber der messerscharfe Wasserstrahl, der sogar Metall zerschnitten hätte, verwandelte sich in einen formlosen Ballen Dampf, sobald er nur den Kopf seines Opfers berührte. Von irgendwoher zu seiner Rechten erklang ein unterdrücktes Schreien.
Viktor stürzte in Richtung des Ufers und hinterließ dabei eine rauchende Spur wie eine Zündschnur. Seine Gegner konnte er nicht sehen.
Wahrscheinlich nährte sich sein inneres Feuer von seinem Zorn. Ganz allmählich nahm die Hitze etwas ab, und von seinen Armen schossen nicht ständig neue Dampfwolken hoch. Jetzt schwamm er, nicht sonderlich schnell und nicht sonderlich geschickt; unter der Brücke wurde er von einer starken Strömung erfasst. Er blickte sich um.
15
MSTA Fluss, der durch die Kreise Nowgorod und Twersk fließt und früher eine bedeutende Verbindung zwischen der Wolga, dem Ilmensee und Nowgorod darstellte.