Ritor schloss verzweifelt die Augen. Mit dem größten Vergnügen hätte er den Verwandten dieses Mannes eine Entschädigung für ihn bezahlt.
Nein, nein, nein.
Es blieb ihm nichts übrig, als zu handeln, um den unangemessenen Preis zu drücken, und am Ende würde er bezahlen.
Es verstand sich von selbst, dass sie nicht nach Chorsk zurückkehrten. Tel vermutete, dass ihre Verfolger - die Magier
»Lehnsbesitz«, erklärte Tel mit wiedererlangter Sorglosigkeit. »Viele haben sich darum gestritten, aber in den letzten Jahren war die Luft dort an der Macht. Es ist kein besonderes Städtchen, aber sehr günstig gelegen. Und sie machen gute Schwerter dort. Es gibt ein Theater ...«
Sie gingen durch die Grassteppe entlang des Waldrandes und entfernten sich immer weiter vom Fluss. Tel hielt es auch nicht für zweckmäßig, zur Eisernen Route zurückzukehren, zumindest nicht im Augenblick. Denn dort würden sie Viktor als Erstes suchen. Stattdessen hatte Tel die Idee, sich zum Kanal durchzuschlagen, um von dort auf einem Lastkahn nach Süden zu fahren, und Viktor stimmte ihr ohne weiteres Nachfragen zu.
»Sehr gut, dass sie mich nicht gesehen haben«, sagte Tel. »Wunderbar. Ich werde mir was ausdenken, was dir nicht mal im Traum einfallen würde. Wir werden sie austricksen ...«
Viktors Zuversicht wuchs nicht unbedingt durch dieses Versprechen. Er wäre lieber nach seinem eigenen Willen verfahren. Aber andererseits wollte er nicht mit Tel streiten.
»Schau doch mal, wie schön!« Vor Freude jauchzend, lief das Mädchen los. »Viktor!«
Das Meer blassblauer Blumen versetzte Viktor nicht gerade in Euphorie; und es rief erst recht nicht das Verlangen in ihm wach, sich darauf plumpsen zu lassen, die Arme von sich zu strecken, mit den Fersen darauf einzuschlagen und dabei wie ein Welpe zu fiepen.
»Das ist Schollenkraut«, erklärte Tel, die sich inzwischen beruhigt hatte und Viktor lächelnd beobachtete. »Das Symbol vom Clan der Erde. Es heißt, wenn man sich auf ihm wälzt, nehmen die Kräfte zu, und das Gehen fällt leichter.«
»Wirklich?« Viktor legte sich bereitwillig neben sie.
»Natürlich nicht«, lachte Tel. »Es ist nur ein Märchen. Aber es ist trotzdem herrlich, sich so zu wälzen und auszuruhen ... Außerdem ist es ein Zeichen.«
»Was denn wieder für ein Zeichen?«
»Du hast den Angriffen zweier Elementarer Clans standgehalten. Dem des Wassers und dem der Luft. Du hast ihre Kräfte erfasst.«
»Davon merke ich nicht viel. Mir tun die Beine weh, und ich bin müde wie ein Hund.«
»Die Kräfte zu erfassen bedeutet nicht, sie zu beherrschen. Aber du hast die Weihen zweier Clans hinter dich gebracht.«
»Und ich muss noch alle anderen bestehen?«
»Ganz, wie du willst«, antwortete Tel. »Du kannst natürlich auch nach Hause zurückkehren. Du wirst sehen, der Pfad wird sich dir offenbaren. Aber zufällig liegt hier gerade das Land des Erdclans vor uns.«
»Wie wunderbar! Schon lange hat keiner mehr versucht, mich umzubringen.«
»Ja, du hast Recht«, stimmte Tel verdächtig schnell zu. »Das ist das Schwierigste für dich. Aber schau nur, das Feuer ... beherrschst du sogar ohne Initiation.«
»Na klar.« Viktor wühlte in seiner Tasche nach dem Feuerzeug und drückte mit dem Daumen auf den Anzünder. »Ich bin der Herrscher des Feuers.«
»Das heißt, nach Oros ... Oros. Ach, ich liebe diese Stadt.«
Tel setzte sich auf, brachte ihre Haare in Ordnung und blickte Viktor an, und dabei spielte ein feines trauriges Lächeln um ihre Lippen. »Ich bin sehr froh, dass ich dich getroffen habe. Die Andere Seite hat dich nicht gebrochen. Dafür müssen wir uns bei deiner Großmutter bedanken, aber du selbst bist auch ein feiner Kerl.«
»Sag mal, Tel ... als Großmutter Vera mich zwang zu springen ... und später ins eisige Wasser zu hüpfen ... was war das?«
»Eine Prüfung.«
»Wenn sie geahnt hat, wohin es mich verschlagen könnte, warum hat sie es mir dann nicht gesagt?«
»Weil dein Schicksal nur dein Schicksal ist. Aber deine Wahl triffst du selbst. Du hättest auch anders erzogen werden, was anderes lernen können. Aber wozu, da doch keiner wusste, wie dein Leben verlaufen würde? Du musstest nicht zwangsläufig hier landen. Etwa, wenn ich nicht durchgekommen wäre. Oder wenn du ein ganz anderer Mensch geworden wärst; denk doch, nur ein kleiner Schritt, und die Andere Seite hätte dich verschluckt. Es hätte schon ausgereicht, dass etwas dich bei euch hält ... ein Fädchen, eine Wurzel, ein Anker, dann hättest du nicht weggehen können.«
»Vielleicht wenn ich glücklich gewesen wäre«, flüsterte Viktor.
»Ja, sicher.«
»Aber es gefällt mir hier. Wirklich. Trotz allem.«
Der Weg zum Kanal war weit. Die Sonne stand schon tief, als Tel und Viktor ihn endlich erreichten.
Der Kanal war breit und schön anzusehen. Die Uferböschung war an manchen Stellen mit Holzbalken verstärkt; auf dem Wasser glitten breite Flöße und dicke Lastkähne
»Tel ...« Viktor konnte seine Frage nicht zurückhalten. »Wie ist das möglich ... dass sie in beide Richtungen von selbst schwimmen?«
Das Mädchen blickte nicht mal zu den Kähnen hin. »Diesen Kanal haben Wasser und Erde gemeinsam ausgehoben, Viktor. Die Magier des Wassers haben Strömungen in beide Richtungen hineingewirkt. Vorwärts und rückwärts. Und zwar so raffiniert, dass ein schwer beladener Lastkahn mit der gleichen Geschwindigkeit dahingleitet wie ein leerer. Ihre Kraft ist groß, da kann man sagen, was man will.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Was meinst du? Wir gehen zum Ufer und halten ein Schiff an. Passagiere werden gerne aufgenommen.«
Das Mädchen ging energischen Schrittes zum Rand der Uferböschung, die hier mit einer niedrigen Mauer aus Holz verstärkt war. Sie postierte sich und streckte die Hand zu einer Geste aus, wie sie auch auf der Anderen Seite bekannt war, nämlich zu einer geschlossenen Faust, aus welcher der Daumen in die Höhe ragte.
»Irgendwer wird uns schon mitnehmen«, sagte Tel.
Sie mussten nicht lange warten. Zunächst schwamm ein langes Floß vorbei, das offenbar Bauholz nach Süden transportierte; der nächste Kahn, der darauf folgte, glitt aufs Ufer zu. Er war etwas kleiner als die meisten anderen, wirkte gut in Schuss, war frisch mit brauner Farbe gestrichen und trug am Bug in dunkelroten Buchstaben den Namen Elberet.
Elberet, Elberet ... irgendwie kam ihm das bekannt vor ...
»He!«, rief jemand auf der Barke. »Springt rüber! Hier können wir nirgends festmachen, seht ihr das nicht?«
Tel hüpfte grazil an Bord. Viktor sprang als Zweiter und stellte überrascht fest, dass die Luft ihn fürsorglich unter den Armen fasste, als fürchtete sie, er könne abstürzen, obgleich zwischen der Kahnwand und dem Ufer nicht mehr als eineinhalb Meter Wasser lagen.
Aus dem niedrigen hölzernen Deckhaus achtern trat ein Mann auf sie zu. Er war groß, mit schmalen Schultern, ging etwas gebeugt, und seine langen Haare wurden über der Stirn mit einer Perlenspange zusammengehalten. Sein Gesicht war braungebrannt und wettergegerbt, und über die Schultern hatte er seltsamerweise einen langen schwarzen Mantel geworfen.
»Hallo!« Er streckte ihnen seine Hand entgegen. »Wohin wollt ihr?«
»Bis zum Ende, Kapitän«, sagte Tel mit einem bezaubernden Lächeln. »Nehmen Sie uns mit?«
»Was soll die Frage? Natürlich. Habt ihr Futter dabei? Eine Matte zum Schlafen finde ich schon für euch ...«
»Essen haben wir keines ...«, seufzte Tel.
»Drei Münzen pro Nase am Tag«, beschied ihr der Kapitän. »Wie heißt ihr? Ich bin Eleneldil.«
»Welcher Rasse gehörst du an, verehrter Eleneldil?«, fragte Tel überrascht. »Das ist doch kein menschlicher Name?«
Viktor brachte den Namen mit einem bekannten tschucktschischen Rentierzüchter[16] in Verbindung und musste lächeln.
16
TSCHUCKTSCHISCHER RENTIERZÜCHTER Die Tschucktschen sind ein indigenes Volk im russischen Fernen Osten, die traditionell von der Rentierzucht, der Jagd und dem Fischfang leben. In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sehr viele Witze über sie.