»Wieder erwischt«, sagte Viktor. »He, Scheusal, du hast mich wieder erwischt ...«
Den dreisten Dickwanst für die Wiederholung seiner Träume verantwortlich zu machen war natürlich dumm. Beim ersten Mal hatte der jedenfalls ganz sicher nichts damit zu tun gehabt und sich selbst über Viktors Besuch gewundert. Aber jetzt wurde Viktor den Gedanken nicht mehr los, dass jede beliebige Handlung seinerseits dem Fresssack zur Belustigung diente.
»He«, schrie er. »Scheusal! Diesmal will ich nichts mit dir zu tun haben!«
Der Wald schwieg und ebenso die grau gewordenen Ruinen des Gebäudes (hatte es hier geregnet oder was?); nur die Wellen antworteten mit zustimmendem Rollen, und der Wind erfasste seine Worte und trug sie in die Ferne.
»Gute Nacht!«, wünschte Viktor den unsichtbaren Beobachtern. Er ging ein Stück weg vom Ufer, zu einer trockenen Stelle, legte sich hin und schlief ein.
Zum zweiten Mal. Und er wunderte sich nicht einmal darüber, dass man im Traum einschlafen konnte.
Diesmal wirkte Ritor die Zauberformel allein. Sie erforderte nicht viel Kraft, denn der Drachentöter konnte nicht weit gekommen sein. Der Magier war auf das flache Dach des Bahnhofs geklettert, wo er jetzt mit halb geschlossenen Augen saß und spürte, wie sich eine unsichtbare Windspirale
Nur zwanzig Kilometer entfernt von der Stadt stieß er auf die Spur. Ritor knirschte vor Zorn mit den Zähnen, als er feststellte, wie nahe der Drachentöter war. Was für eine Dreistigkeit! Er hatte sich nicht einmal bemüht fortzukommen ... sondern war ans Ufer geschwommen und hatte sich schlafen gelegt.
Während das unsichtbare Windgeflecht gehorsam die Erde, das Wasser und den Himmel abtastete, wartete Ritor. Der Drachentöter sollte es spüren ... Leider hatte dieser durch sein Bestehen im Kampf gegen Ritor und die übrigen Magier nun auch die Weihe der Luft erhalten. Der halbe Weg lag bereits hinter dem Drachentöter. Es blieben noch die Erde und das Feuer. Die Erde würde ihm, wie es aussah, keine besonderen Schwierigkeiten bereiten, aber um das Feuer würde er sich kümmern müssen. Das Feuer würde ihn nicht einfach so ziehen lassen. Sobald sie Wassermagie spürten ... würden sie um jeden Preis versuchen ihn umzubringen. Obgleich, auch dort in Oros war das Meer zur Hand. Wer weiß, vielleicht würde er entwischen.
Ach, ihr Großen Kräfte, wie dringend bräuchten wir jetzt den Clan des Feuers, dachte Ritor. Wenn zwei Elemente zusammen ... wenn noch ein Feuermagier an meiner Seite wäre, dann könnte der den Angriff des Wassers auf sich ziehen ... und ich würde diesen nichtswürdigen Halunken endlich vernichten.
Ritor hatte keinen Zweifel mehr daran, dass der Drachentöter genau das war, ein nichtswürdiger Halunke; ganz sicher war er kein unglückseliger Mensch, der sich in sein
Aber nachträgliches Lamentieren brachte ihn nicht weiter. Der Plan des Drachentöters war einfach und wirksam. Er musste noch die Weihen zweier Clans durchlaufen, die des Feuers und die der Erde, und zwar weit im Süden, am Warmen Ufer. Wenn er der Route folgte, wäre er ein bis zwei Tage unterwegs. Jetzt reiste er vermutlich auf dem Kanal, dort gab es genug Schiffsverkehr, und die Flößer und Kapitäne der Frachtkähne nahmen gerne Passagiere auf. Drei Tage würde der Drachentöter brauchen, um sein Ziel zu erreichen.
Sollte Ritor einen Boten zum Clan der Erde schicken? Das würde wohl kaum etwas nützen, denn die Geflügelten Herrscher, die Drachen, waren dort zutiefst verhasst. Der Clan des Feuers war noch geschwächt von dem verheerenden Anschlag, den er vor kurzem erlitten hatte. Ritor hatte also keine andere Wahl, er würde den Drachentöter verfolgen müssen in der Hoffnung, ihn einzuholen, ehe dieser die Besitzungen des Erdclans erreichte.
Aufsteigen und hinfliegen, ohne Rücksicht auf die eigenen Kräfte? Das wäre möglich ... sie könnten die Stunde ihrer Größten Kraft abwarten und zu dritt, mit Sandra und Asmund, mit aller Macht zuschlagen. Aber dann würde der Drachentöter einfach in den Kanal springen, und Ritors Macht endete an der Grenze zwischen Luft und Wasser. Nein, das war keine Lösung. Es blieb nur ein Ausweg, sie
Sie hatten etwas Zeit gewonnen. Der Donnerpfeil würde das Warme Ufer innerhalb eines Tages erreichen, so dass sie wenigstens noch zwei Tage für die Vorbereitungen übrig hatten. Mehr als genug.
Schüttle deine Zweifel ab, Ritor. Dein Weg ist der einzig richtige. Du verfügst über das, was jetzt am wichtigsten ist - Erfahrung. Du bist dem Drachentöter mehrere Schritte voraus; ein zweites Unglück wird, ja, kann nicht geschehen. So wenig, wie ein Apfel, der sich vom Baum löst, ohne Hilfe von Magie in die Höhe fliegen kann.
Es war an der Zeit zurückzukehren; sollte Sandra die armen Kinder mitnehmen, die durch die Schuld des Drachentöters zu Waisen geworden waren. Die Erschütterung durch das Grauen und den Hass hatte die Kinder möglicherweise verändert ... vor allem den Säugling, denn Kleinkinder waren besonders sensibel. Vielleicht würde er zu einem mächtigen Magier heranwachsen, immerhin war er auf dem Territorium der Luft gezeugt und geboren worden.
Ritor kletterte vom Dach.
Der Bahnhof war mit schneller Hand schon wieder halbwegs in Ordnung gebracht worden. Den zertrümmerten Waggon hatte man auf ein Abstellgleis geschoben, die Toten waren fortgebracht, die Verletzten in ein Krankenhaus transportiert worden; die Blutflecken auf dem Bahnsteig hatte man mit frischem Sand bestreut. Ritors Truppe saß finster wie eine Trauergesellschaft im Wartesaal »Nur für Magier«.
Sandra hielt den im Schlaf schmatzenden Säugling in den Armen. Asmund war es schon gelungen, die Mädchen
Sogar Erik und Kevin hatten ihre übliche Maske des kalten Gleichmuts und der Verachtung abgelegt. Ihre Jungen hielten sich besser. Im Alter von zwölf empfindet man den Tod noch nicht so stark. Vor allem den von Fremden. Und besonders, wenn er im Kampf eintritt.
»Wir kehren um«, sagte Ritor ohne Vorrede. »Der Drachentöter wird auf dem Kanal reisen. Dort können wir uns seiner nicht bemächtigen. Er hat jetzt nur ein Ziel, er will nach Süden, zum Clan der Erde und von dort zum Feuer. Wir müssen ihn überholen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Wir müssen ihm eine Falle stellen. Und zwar an einer Stelle ... wo keine Menschen sind.«
Alle schwiegen. Warteten darauf, dass er weitersprach.
»Ich werde Hilfe anfordern. Von unserem Clan und vom Clan des Feuers. Das ist unsere letzte Chance, eine weitere bekommen wir nicht. Wenn er erst drei Weihen hinter sich hat ... verbleibt dem Drachentöter nur noch ganz wenig. Das heißt, es darf nichts schiefgehen, haben das alle verstanden? Kevin, Erik? Beim nächsten Mal soll euch nichts ablenken. Wir werden uns um seinen Schutzwall kümmern. Und töten müsst ihr ihn.«
Kevins Wange zuckte. Sein Auge war schon wieder in Ordnung.
»Es wird schwer sein, dieses Schwein zu erwischen. Erik und ich schaffen das nicht allein.«
»Wie viele Paare benötigt ihr?«, fragte Ritor ruhig, obwohl er innerlich erstarrte. Wenn Kevin schon zugab, dass er etwas nicht allein vermochte ...
»Mindestens vier, besser fünf«, sprang ihm Erik unerwartet bei.
»Also fordern wir sieben an«, fasste Ritor ungerührt zusammen.
»Jonathan, Randor, Ben, Jerome, Bert, Avel, Blade«, zählte Erik mit gemessener Stimme auf.
Ja, das waren die Allerbesten.
»Und wer bleibt dann beim Clan?«
»Die beiden Jungen, die vor kurzem dazugestoßen sind, Danka und sein jüngerer Bruder[18]. Sie zählen für vier, nur in die Magie wurden sie noch nicht eingeführt, dafür ist es noch zu früh«, erklärte Kevin.
»In Ordnung«, nickte Ritor.
Es würde eine blutige Angelegenheit werden. Nur wenige würden nach Hause zurückkehren. Aber das war nicht von Bedeutung. Die Älteren kannten ihre Pflicht. Und sie würden sie ihren Partnern erklären.
18
DANKA UND SEIN JÜNGERER BRUDER Hier ist eine Anspielung auf die beiden Hauptfiguren Danka und Len aus Lukianenkos Roman »Der Herr der Finsternis« versteckt.