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Loj Iwer dachte nach. Sie saß bequem da und stützte ihr Kinn auf die verschränkten Finger ihrer Hände; auf dem Tisch vor ihr lagen runde, hölzerne Spielmarken in verschiedenen Farben.

Folgendes hatte sich ergeben: Ritor wartete auf den Drachen. Torn wollte ihn vernichten ... und nicht nur ihn, sondern beide, den Drachen samt Ritor. Zu alledem kam noch die drohende Invasion der Angeborenen hinzu. So weit, so gut. Und wenn man dann noch die Berichte der Kundschafter berücksichtigte ...

Bereits zwölf Stunden nach dem Kampf am Bahnhof von Chorsk war Loj von den dortigen Vorfällen in Kenntnis gesetzt worden. Und jetzt saß sie da, konnte nicht schlafen und wendete die Neuigkeiten hin und her.

Noch davor waren die Nachrichten vom Zusammenstoß am Bahnhof in Luga und über die Ereignisse an der Brücke eingetroffen. Ihre Spionage funktionierte wieder gut ...

Noch mal eins nach dem anderen. Also, Chorsk. Nehmen wir ein paar Marken, und stellen wir die Situation mal nach. Ritor, Sandra und der neue Magierjunge - wo war eigentlich die alte Garde abgeblieben, Solli, Eduljus und die Brüder Gaj und Roj? -, diese drei jedenfalls versuchten einen gewissen Mann, der vor kurzem von der Anderen Seite gekommen war, zu töten. Der Magier Gotor und ein weiterer Magier vom Strafkommando des Wassers mischten sich in den Kampf ein und mussten dabei ihr Leben lassen.

Die Nachrichten waren dürftig. Aber Loj presste aus ihnen heraus, was sie vermochte.

Der Mann von der Anderen Seite, um dessentwillen Ritor seinerseits selbst mit einem regelrechten Todeskommando im Schlepptau ausgezogen war und seinen Clan sich selbst überlassen hatte, dieser Mann konnte niemand anderes sein als der potenzielle Drachentöter, der noch nicht alle seine Weihen erhalten hatte. Es war klar, warum Gotor sich in den Kampf eingemischt hatte, er hatte den Mord abwenden wollen.

Aber warum war dann derselbe Magier des Wassers mit seinem Gefolge zu einem früheren Zeitpunkt über den Mann hergefallen? Warum versuchten sie ihn in Luga zu töten? Wenn er doch der Drachentöter war, jener Mensch, den Gotor schützen sollte ... was er ja zu guter Letzt auch getan hatte ... aber erst als dieser durch Ritor bedroht wurde. Bis dahin aber, so schien es, hatte Gotor selbst ganz ernsthaft versucht, den Mann zu töten.

Loj hielt es nicht mehr aus und sprang auf. Hier verbarg sich etwas ... etwas unvorstellbar Wichtiges ...

Die einfachste Erklärung war, dass Gotor den Drachentöter angegriffen hatte, um Ritor abzulenken. Dafür sprach auch, dass es zu dem Zeitpunkt noch sehr viel einfacher hätte sein müssen, den Kerl zu töten als jetzt, da dieser immerhin zwei Weihen durchlaufen hatte. Ja, das war möglich. Ritor hatte von den Angriffen erfahren, er hatte sich vergewissert und war zu dem Schluss gekommen, dass Torn ihn nur täuschen wollte; er hatte über die unbeholfene Schläue gelacht und war selbst in den Kampf gezogen.

So ergab es Sinn. Und dennoch ... irgendetwas ließ Loj keine Ruhe; es wirkte alles schon zu logisch.

Sicher, sogar sie selbst, als Oberhaupt der Katzen, war nicht vertraut mit den Geheimnissen der Weihen. Das ärgerte sie, ja, es machte sie wütend, denn Loj war es nicht gewöhnt, im Dunkeln zu tappen. Aber etwas anderes blieb ihr im Moment nicht übrig. Sie würde es riskieren müssen. Und zwar allein, ihr Clan sollte nicht mit hineingezogen werden.

Die graue Spielmarke des Katzenclans lag etwas abseits, in der Nähe der Gruppe der Luft. So war die Aufstellung ...

Es war ein Leichtes gewesen, Torn zu erobern. Ritor war ein anderes Kaliber. Bei ihm würde sie nicht mit primitiven Tricks zum Ziel kommen. Genaugenommen hatte Loj noch nicht entschieden, wen sie in diesem Krieg unterstützen würde. Sich neutral zu verhalten und im Abseits zu bleiben würde ihr diesmal kaum glücken; man konnte von Torn halten, was man wollte, aber er war ein außergewöhnlich starker Magier. Und wenn er eine bevorstehende Invasion der Angeborenen prophezeite, dann konnte man sicher sein, dass dem auch so war.

Aber wenn die Angeborenen vom Erschaffenen Drachen angeführt würden ...

Loj zog fröstelnd die Schultern hoch. Über ein derart grauenvolles Szenario wollte sie nicht einmal nachdenken. Und was, wenn es Ritor auch noch gelänge, den Drachentöter umzubringen? Dann wären die Clans am Warmen Ufer praktisch chancenlos. Sie hatten nur die Wahl zwischen einem heroischen Tod oder einer Flucht nach Norden in der schwachen Hoffnung, ihr Leben um ein paar Jahre zu verlängern ...

Nein, dazu würde es mit den Angeborenen nicht kommen. Die würden weder am Warmen Ufer noch am Singenden Wald, nicht in den Steppen und den nördlichen Wäldern und auch nicht an der Grauen Grenze haltmachen: Sie würden erst haltmachen, wenn sie sich der ganzen Welt bis zum letzten Sandkörnchen bemächtigt hatten. Es war sinnlos, sich mit falschen Hoffnungen zu trösten.

War es am Ende ein Fehler gewesen, dass sie Torn an dem Mord an Ritor gehindert hatte? Hatte sie selbst dem grauenvollen unbesiegbaren Ungeheuer von der Bruchstelle der Welten den Weg zum Warmen Ufer gebahnt?

Nein, sagte sie sich. Ihre Intuition hatte sie noch nie im Stich gelassen. Und auf was hätte sie sich sonst verlassen sollen, da sie doch über keine Informationen verfügte? Diese Intuition hatte Loj früher nie getäuscht, und das war gewiss auch dieses Mal nicht der Fall. Ritor war kein Hasardeur. Er würde sich nicht selbst der einzigen Hoffnung auf einen Sieg berauben.

Das heißt, genaugenommen hatte er ja noch eine andere ...

Die Rückkehr des alten Drachen.

In einer Ecke des Tisches hatte Loj eine hellblaue Marke platziert - hellblau für die Magier des Wassers; nun warf sie eine weitere zwischen die Marke des Wassers und die

Loj biss sich auf Lippen. Bloß nicht abergläubisch werden! Was war nur mit ihr los? Wollte sie ihr Schicksal etwa orakeln? Ausgerechnet mit den bunten Spielmarken, die Chor und seine Katzen als Spielgeld beim Kartenspiel benutzten?

Ganz sicher nicht! Ob die goldene Marke jetzt hochkant stand oder von einer Seite zur anderen kippelte, das war ihr egal.

Ritor hegte jedenfalls keinen Zweifel daran, dass sie die Invasion der Angeborenen nur mit Hilfe des Drachen überstehen würden. Und Ritor hatte viel Erfahrung - vermutlich war er der erfahrenste Magier am Warmen Ufer. Er war bereit, die Existenz seines Clans aufs Spiel zu setzen, Hunderte, sogar Tausende von Menschenleben, damit der Drache zurückkehrte.

Und damit jener nicht von einem vollendeten Drachentöter, der alle Weihen bestanden hatte, empfangen würde.

Aber was würden sie mit dem Drachen anfangen, wenn sie den Angriff der Angeborenen mit seiner Hilfe abgewehrt hatten? Wie sahen Ritors Pläne für diesen Zeitpunkt aus? Würden die Geflügelten Herrscher wieder herrschen? Würde es wieder Beschränkungen der Magie, grimmige Gesetze und schwere Tribute und Abgaben geben?

Nein, danke. Davon hatten sie genug. Für immer genug. Nicht umsonst hatten damals alle Clans Ritor geholfen ... dem Einzigen, dem zuzutrauen war, dass er die schwierige Aufgabe des Drachentöters erfüllen konnte.

Loj konnte ein wütendes Fauchen nicht unterdrücken. Es gab keinen Ausweg, so oder so sah es schlecht aus. Grimmig [19], holst du sie nicht mehr zurück.

Vermutlich zum ersten Mal überhaupt befand Loj sich in einer Situation, in der sie selbst keine eindeutige Entscheidung zu treffen vermochte. Bisher hatte sie sich nur um die Interessen ihres Clans kümmern müssen, um seinen Schutz. Sie hatte zusehen müssen, dass sie nicht in irgendwelche Streitereien verwickelt wurden. Dieses Mal fiel ihr offensichtlich die Aufgabe zu, zu entscheiden, wer die besseren Chancen hatte, Ritor oder Torn. Die Waagschalen schwankten noch in einem fragilen Gleichgewicht, aber die kleinste Zugabe auf der einen oder anderen Seite würde den endgültigen Ausschlag geben. Würde Loj Iwer sich in den Kampf einschalten, oder würde sie es, wie sonst auch, den Gegnern überlassen, ihre Verhältnisse unter sich zu klären?

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19

»SPUCK NICHT IN DEN BRUNNEN, DENN FLIEGT DIE KUGEL ERST ...« Hier werden Versatzstücke beliebter Sprichwörter aneinandergereiht: »Spuck nicht in den Brunnen, aus dem du selbst trinkst« und »Das Wort ist wie eine Kugel, ist es erst heraus, holst du es nicht mehr zurück«.