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»Sich um dich Sorgen zu machen wäre so, als ob man einen Fisch im Wasser mit einem Schirm vorm Regen schützen wollte.«

So standen sie gegenseitig stichelnd eine halbe Stunde am Straßenrand und warteten. Dann saßen sie eine weitere halbe Stunde im Gras. Gut ein Dutzend Karren und andere Fahrzeuge kamen in dieser Zeit vorbei. Aber Tel rümpfte immer nur verächtlich die Nase; und auch Viktor reizte die Vorstellung nicht, in einem Wagen zusammen mit fünf dicken, freundlich grunzenden, fröhlichen Schweinen zu reisen oder in einem riesigen Gefährt, das wie ein Eisenbahnwaggon aussah und voller betrunkener, lustiger Gnome war. Im Gegensatz zu der Gegend um die Graue Grenze gab es hier praktisch keine Elfen; vielleicht mochten sie nicht so weit weg von den Wäldern siedeln, vielleicht hatten sie aber auch, einmal vertrieben von den Magiern, nicht mehr zurückkehren wollen.

»Weißt du, was mich wirklich wundert?«, fragte Viktor rein rhetorisch. »Wie ihr hier miteinander auskommt.«

»Wer? Alle? Oder die Clans?«

»Ach, lass mich mit den Clans in Ruhe! Wie viele Magier gibt es denn in jedem Clan? Hundert, tausend? Die haben doch keine andere Wahl, als miteinander auszukommen.«

»Sag das nicht.«

»Euch sticht doch nur der Hafer.« Viktor schmetterte Tels Einwände einfach ab. »Nein, ich meine, wie kommt es, dass die Elfen und Gnome nicht übereinander herfallen?«

»Gelegentlich fallen ja welche übereinander her«, warf Tel nachlässig ein. »Und es gibt ja auch nicht mehr viele. In den Bergen zum Beispiel trifft man ab und zu noch auf Trolle, aber sie sind selten geworden. Alle, die sich nicht eingewöhnen konnten, sind ausgestorben.«

Viktor dachte an den Kapitän ihres Kahns und fragte: »Gibt es hier noch Hobbits?«

»Was?«

Er erklärte es ihr, so gut er konnte.

Tel schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal klang ihre Stimme unsicher: »Ich hab noch nie davon gehört. Und ganz bestimmt noch keine getroffen. Das muss eure Erfindung sein.«

Endlich erschien ein Fuhrwerk auf dem Weg, das Tel mit einem Nicken guthieß. Es war eine Art Planwagen, dessen Bögen im Augenblick nicht von Planen verhängt waren. Ein junger Mann saß auf dem Kutschbock vor dem eingespannten Pferd und lenkte den Wagen, indem er in der einen Hand die Zügel hielt, gleichzeitig Sonnenblumenkerne knackte und mit der anderen Hand in einem abgegriffenen Büchlein blätterte. Der Anblick des Buches rief bei Viktor fast die gleiche unerhörte Gier hervor wie die Zeitungen am Bahnhof. Wie man es auch drehte und wendete, die Tatsache, dass er keine Möglichkeit hatte, etwas zu lesen, blieb nicht ohne Folgen.

»He, he!« Der Junge winkte ihnen freundlich zu. »Wollt ihr mitfahren?«

»Ja, nimm uns mit!« Tel zog Viktor hinter sich her. »Komm schon, schnell!«

Der Junge hatte offensichtlich nicht vor, das Pferd zum Stehen zu bringen, aber der gemächliche Schritt der phlegmatischen Stute stellte kein Hindernis dar. Tel sprang so leicht auf den Wagen, dass der Kutscher beifällig schnalzte. Viktor dagegen lief eine Weile schmachvoll hinter dem Wagen her, ehe er durch die offene Hinterwand hineinkletterte. Entlang der Längsseiten des Wagens standen zwei hölzerne Bänke, dazwischen häuften sich Berge von Heu.

»Wie weit wollt ihr fahren?«, fragte der junge Mann und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Auf der Anderen Seite würde er als ein ganz gewöhnlicher junger Mann

»Nach Feros«, sagte Tel und lächelte ebenfalls. »Mein Bruder und ich wollen uns als Magier versuchen.«

Was sollte denn das jetzt wieder, mein Bruder und ich?, überlegte Viktor.

»Den ganzen Weg kann ich euch nicht mitnehmen, aber bis zu den Fürstenhöfen gern.«

Viktor versuchte, Tels Aufmerksamkeit durch ein Hüsteln auf sich zu ziehen, aber die war vollauf mit ihrem kleinen Flirt beschäftigt.

»Die Leute sagen, ich hätte Talent. Am Ende wird aus mir wirklich eine Magierin, denk doch nur!«

»Das wäre ja toll! Na, versuch’s nur!« Der Junge legte das Buch zur Seite, ließ die Zügel los, worauf das gehorsame Pferd nicht im Geringsten reagierte, und hielt Tel in der offenen Hand Sonnenblumenkerne hin. »Da, nimm dir welche! Mein Bruder Sascha hat sie geröstet.«

»Danke dir.« Tel setzte sich neben ihn. »Und du, wie heißt du?«

»Wasja.«

»Ich heiße Tel. Hübsch, nicht wahr?«

Mit einiger Fassungslosigkeit betrachtete Viktor dieses Kind der Mittelwelt. Was würde sich ändern, wenn man es auf die Andere Seite versetzte? Vermutlich nichts.

Jetzt wandte sich der Junge an ihn. »Magst du auch? Keine Sorge ...« Eine Handvoll Kerne landete in Viktors Handfläche.

»Viktor.«

»Aha. Na, Vitek, knack dir ein paar Kernchen. Ich sag dir - süß wie Zucker!«

»Dürfte ich vielleicht ...« Viktor zeigte auf das Buch.

»Kannst du lesen?« Der Tonfall des Jungen war auf einmal nicht mehr nur freundlich, sondern regelrecht vertraulich. »Ich liebe es auch! Nimm nur, aber mach dir vorher die Hände sauber.«

Viktors Ansicht nach hatte das arme Buch nicht mehr viel zu verlieren. Der Papiereinband war so abgewetzt, dass man die Farben nicht mehr erkennen konnte. Auch der Titel war unlesbar geworden. Dennoch rieb sich Viktor gehorsam die Handflächen an den Jeans ab und öffnete das dicke Bändchen an der Stelle, wo ein Strohhalm aus den Seiten herausragte.

Hierher kamen sie nach kurzer Instruktion[21] direkt aus den Zellenversammlungen, sie schritten schweigend dahin, einzeln oder zu zweit, höchstens zu dritt, und jeder von ihnen trug in seiner Tasche ein Mitgliedsbuch mit dem Aufdruck »Kommunistische Partei (Bolschewiki)« oder »Kommunistischer Jugendverband der Ukraine«. Das eiserne Tor konnte nur passieren, wer ein solches Büchlein vorwies. Im Hörsaal hatten sich bereits viele Menschen eingefunden. Der Raum war hell erleuchtet, die Fenster waren mit Segeltuchplanen verhängt. Die versammelten Bolschewiki machten Witze über diese Vorsichtsmaßnahmen und rauchten seelenruhig ihre »Ziegenbeine[22]«.

Viktor hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden, ratlos blickte er Wasja an.

Der Junge nickte. »Aha! Hat’s dich gepackt? Flott erzählt, was?«

»Woher ... hast du das?«

»Es ist eben so ein Buch«, erklärte der Junge geduldig. »Fantasy. Schon mal davon gehört? Das heißt, sie lügen, aber spannend und zusammenhängend.«

»Das ist ein Buch von der Anderen Seite«, bemerkte Tel nach einem kurzen Blick. »Wie bist du daran gekommen?«

Wasja lächelte voller Stolz, gab aber keine Antwort.

»Und ... verstehst du das alles?« Viktor konnte sich sein leidenschaftliches Verhör nicht verkneifen.

»Na ja ... nicht ganz. Wie sie da Ziegenbeine rauchen können - ist mir echt ein Rätsel. Und dann all diese Bolschewiken und ... Komsomolzen. Die sind wohl so was wie die Gnome bei uns - bauen auch die ganze Zeit an der Eisenbahn. Oder sie sind eine Art Magier, die für Ordnung sorgen und die Abgaben eintreiben.«

Viktor war drauf und dran zu antworten, aber Wasja interessierte sich augenscheinlich mehr für Tel als für Fragen des Bolschewismus.

Er schlug Viktor wohlmeinend auf die Schulter und wandte sich wieder an das Mädchen: »Wo liegt denn deine Kraft?«

»Ich kann das Gras wachsen lassen, außerdem spüre ich Wasser ...«

»Das ist großartig!«

»Ich hab damit sogar den Gnomen bei der Route geholfen! Und zweimal bin ich schon auf eine Erzader gestoßen ...«

»Wirklich?« Der Junge stieß einen Pfiff aus. Er hatte ganz offensichtlich eine hohe Meinung von sich selbst. Das war schon an seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, ganz so, als ob er nur zufällig auf diesem Kutschbock gelandet sei

Viktor nickte finster. Warum Tel es für nötig befunden hatte, einen zufälligen Wegbegleiter zu täuschen, konnte er ganz und gar nicht verstehen. Aber für irgendwas würde es schon gut sein ...

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21

»HIERHER KAMEN SIE NACH KURZER INSTRUKTION ...« Zitat aus dem Roman »Wie Stahl gehärtet wurde« von dem russischen Schriftsteller und Revolutionär Nikolai Ostrowski. Sein bekanntestes Buch entstand 1934 und wird dem Sozialistischen Realismus zugeordnet. Es wurde in riesigen Auflagen vertrieben und war zeitweise Pflichtlektüre in der Schule in verschiedenen sozialistischen Staaten. Der Held Pawel Kortschagin schließt sich nach einer düsteren Kindheit unter dem letzten Zaren den Bolschewisten an und kämpft unter Aufbietung aller seiner Kräfte für den Sieg der Revolution.

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22

ZIEGENBEIN Selbstgedrehte Zigaretten.