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»Wann wird denn Gott kommen, um zu richten?« fragte er plötzlich den Alten.

»Das weiß man nicht! ... Sobald die Stunde schlägt, wird er herabkommen von den Wolken, zu richten die Lebendigen und die Toten; aber wann es sein wird, das weiß man nicht ... Wir wollen doch mal beide in den Abendgottesdienst gehen ...«

»Gut, gehen wir!«

»Abgemacht! ...«

Am Sonnabend stand Ilja mit dem Alten auf den Treppenstufen der Kirche, zusammen mit den Bettlern, zwischen den beiden Türen. Sobald die Außentür geöffnet wurde, verspürte Ilja den kalten Luftzug, der von der Straße hereindrang, die Füße wurden ihm steif, und er trippelte leise auf den Fliesen hin und her. Durch die Glasscheiben der Tür aber sah er, wie die Flammen der Kerzen sich gleichsam zu schönen, aus zitternden Goldpunkten gefügten Mustern vereinigten und das Metall der Meßgewänder, die dunklen Köpfe der andächtigen Menge, die Gesichter der Heiligenbilder und das prachtvolle Schnitzwerk des Heiligenschreins beleuchteten.

Die Menschen erschienen in der Kirche besser und friedlicher als auf der Straße. Sie waren auch schöner in dem goldenen Lichtglanz, der ihre dunklen, in ehrfurchtsvollem Schweigen verharrenden Gestalten beleuchtete. Sobald die innere Kirchentür sich öffnete, strömte die weihrauchduftende, warme Woge des Gesanges auf die Vortreppe hinaus: liebkosend umfächelte sie den Knaben, und er atmete entzückt die wohlriechende Luft ein. Es war ihm angenehm, so dazustehen neben dem Großvater Jeremjej, der seine Gebete flüsterte. Er lauschte, wie der feierlich schöne Gesang durch das Gotteshaus flutete, und wartete mit Ungeduld, bis die Tür sich wieder öffnen und der Gesang von neuem auf ihn einströmen, der balsamische warme Luftstrom ihn wieder umfangen würde. Er wußte, daß oben auf dem Kirchenchor Grischka Bubnow sang, einer der schlimmsten Spötter in der Schule, und auch Fedjka Dolganow, ein kräftiger, raufsüchtiger Bursche, der ihn schon mehr als einmal geprügelt hatte. Jetzt aber empfand er ihnen gegenüber keinen Haß und kein Rachegefühl, sondern nur ein wenig Neid. Er selbst hätte dort oben auf dem Chor singen und von da auf die Leute herabschauen mögen. Es mußte gar zu schön sein, dort an der goldenen Mitteltür der Altarwand zu stehen und zu singen. Als Ilja die Kirche verließ, hatte er das Gefühl, als sei er besser geworden, und er war bereit, sich mit Bubnow und Dolganow und überhaupt mit allen Schülern zu versöhnen. Am folgenden Montag jedoch kam er, ebenso wie früher, finster und beleidigt aus der Schule heim ...

Überall, wo Menschen in größerer Zahl zusammen sind, befindet sich einer darunter, der sich unter ihnen nicht wohl fühlt, und es ist nicht gerade notwendig, daß er darum besser oder schlechter sei als die andern. Man kann das Übelwollen der andern gegen sich schon durch ein Mindermaß an Verstand oder durch eine lächerliche Nase hervorrufen. Die Menge wählt sich einfach irgend jemanden zum Gegenstand ihrer Belustigung, wobei sie nur von dem Wunsche beseelt ist, sich die freie Zeit mit ihm zu vertreiben. Hier war die Wahl auf Ilja Lunew gefallen. Die Sache hätte ohne Zweifel für ihn ein schlechtes Ende genommen, wenn nicht in seinem Leben Ereignisse eingetreten wären, die sein Interesse an der Schule herabminderten und ihn gegen ihre kleinen Unannehmlichkeiten gleichgültig machten.

Es begann damit, daß eines Tages, als Ilja und Jakow zusammen von einem Ausgang heimkehrten, sie im Torweg des Hauses einen Auflauf bemerkten.

»Sieh doch,« sagte Jakow zu seinem Freunde, »da scheinen sie sich wieder zu prügeln! Komm, laß uns rasch hinlaufen!«

Hals über Kopf eilten sie nach Hause, und als sie auf den Hof kamen, sahen sie, daß dort fremde Menschen sich angesammelt hatten und wirr durcheinander schrien:

»Ruft die Polizei! Bindet ihn doch!« Vor der Schmiede standen dichtgedrängt Menschen mit erschrockenen Gesichtern. Kinder hatten sich vorgedrängt und wichen nun entsetzt zurück. Zu ihren Füßen auf dem Schnee lag mit dem Gesicht zur Erde eine Frau. Ihr Nacken war mit Blut und mit einer teigartigen Masse bedeckt, und der Schnee rings um ihren Kopf war gleichfalls rot von Blut. Neben ihr lag ein zerknülltes weißes Kopftuch und eine große Schmiedezange. In der Tür der Schmiede hockte Ssawel und starrte stumm auf die Arme des Weibes. Sie waren vorgestreckt, die Finger waren tief in den Schnee eingegraben. Die Brauen des Schmiedes waren finster zusammengezogen, das Gesicht war verzerrt; man sah, daß er die Zähne fest zusammenbiß; die Backenknochen traten wie zwei große Zapfen hervor. Mit der rechten Hand stützte er sich gegen den Türpfosten. Seine schwarzen Finger bewegten sich zuckend, wie die Krallen einer Katze, und außer diesen Fingern war alles an ihm unbeweglich. Schweigend starrten die Umstehenden ihn an. Ihre Gesichter waren streng und ernst, und während sonst im Hofe Lärm und Verwirrung herrschte, war hier, um die Schmiede herum, alles still.

Da mit einemmal kroch aus der Menge der alte Jeremjej hervor, ganz zerzaust und mit Schweiß bedeckt; mit zitternder Hand reichte er dem Schmied einen Eimer voll Wasser:

»Da, nimm ... trink! ...«

»Gib ihm doch kein Wasser, dem Mörder! 'nen Strick um den Hals verdient er«, sagte jemand halblaut.

Ssawel nahm den Eimer mit der linken Hand und trank lange, lange, und als er alles Wasser ausgetrunken hatte, schaute er in das leere Gefäß und sprach mit dumpfer Stimme:

»Ich hab' sie gewarnt ... Laß es sein, du Aas, sagte ich, sonst schlag' ich dich tot! Ich hab' ihr verziehen! ... Wie oft hab' ich ihr verziehen! ... Aber sie wollt's nicht lassen ... na ... und da ist es so gekommen! ... Mein Paschka ... ist jetzt eine Waise ... schau' nach ihm, Großväterchen ... dich liebt der Herr ...«

»A-a-ach, du-u!« klagte wehmütig der Greis und faßte mit seiner zitternden Hand den Schmied an der Schulter, während jemand aus der Menge rief:

»Hört mal den Bösewicht! ... Er redet noch von Gott!!«

Da runzelte der Schmied die Brauen und brüllte plötzlich wie ein wildes Tier:

»Was wollt ihr? Packt euch alle!«

Sein Aufschrei wirkte wie ein Peitschenschlag auf die Menge. Sie murrte dumpf und wich von ihm zurück. Der Schmied erhob sich und schritt auf sein totes Weib zu, machte jedoch plötzlich kehrt und wandte sich kerzengerade, in ganzer Höhe aufgerichtet, der Schmiede zu. Alle sahen, wie er dort, in seiner Werkstatt, sich auf den Amboß setzte, mit den Händen nach dem Kopfe griff, als wenn er plötzlich einen unerträglichen Schmerz darin fühlte, und den Oberkörper langsam auf und nieder bewegte. Ilja empfand Mitleid mit dem Schmied; er schritt wie im Traume von der Schmiede hinweg und irrte im Hofe umher, von einer Gruppe zur andern, ohne von den Gesprächen, die er vernahm, etwas zu begreifen.

Die Polizei erschien an der Mordstätte und trieb die Leute vom Hofe. Dann nahm sie den Schmied fest und führte ihn ab.

»Leb' wohl, Großväterchen!« schrie Ssawel, als er aus dem Tore schritt.

»Leb' wohl, Ssawel Iwanytsch, leb' wohl, mein Lieber!« rief der alte Jeremjej mit seiner dünnen Stimme – hastig, wie wenn er ihm nacheilen wollte.

Niemand außer ihm nahm Abschied von dem Schmied...

In kleinen Gruppen standen die Leute noch immer auf dem Hofe, besprachen das Ereignis und schauten mit düsterem Blick auf den Körper der Erschlagenen. Irgend jemand bedeckte ihren Körper mit einem Kohlensack. In der Tür der Schmiede, an der Stelle, wo Ssawel gesessen hatte, saß jetzt ein Polizeiwachtmann mit der Pfeife im Munde. Er rauchte, spuckte zur Seite aus, schaute mit seinen trüben Augen den alten Jeremjej an und hörte ihm zu.

»War er's denn, der gemordet hat?« sprach leise, geheimnisvoll der Alte. »Die schwarze Macht hat's getan, sie allein! Der Mensch kann den Menschen nicht morden... Nicht er ist's, der mordet, meine guten Leute!«