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Einer von den vier Menschen, die nun eintraten, war jener Gromow, der in dem Hause gegenüber von Iljas Laden wohnte. Er nahm auf dem mittleren Sessel Platz, fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und zupfte den reich mit Gold gestickten Kragen seiner Uniform zurecht. Sein Gesicht beruhigte Ilja ein wenig: es war so gutmütig und rot wie immer, nur die Enden seines Schnurrbarts hatte Gromow nach oben gedreht. Rechts von ihm saß ein gemütlicher Alter, stumpfnasig, mit einer Brille auf den Augen und einem kleinen Bärtchen, und links ein Kahlkopf mit einem zweiteiligen roten Vollbart und gelbem, unbeweglichem Gesichte. Dann stand noch an dem Schreibpult ein junger Richter mit einem runden, glattgeschorenen Kopfe und hervorstehenden schwarzen Augen. Sie verharrten alle eine Zeitlang in Schweigen und blätterten in den Akten auf dem Tische; Lunew sah voll Respekt nach ihnen hin und erwartete, daß sogleich, im nächsten Augenblick, einer von ihnen sich erheben und laut und würdevoll irgendetwas sagen würde ...

Aber plötzlich, als Ilja seinen Kopf nach links wandte, sah er das wohlbekannte, glänzende, gleichsam frisch lackierte Gesicht Petrucha Filimonows. Petrucha saß auf einem der karmoisinroten Stühle in der ersten Reihe, stützte sich mit dem Nacken gegen die Lehne des Stuhles und betrachtete ruhig das Publikum. Zweimal glitt sein Auge über Iljas Gesicht, und jedesmal verspürte Lunew in sich den Wunsch, aufzustehen und Petrucha oder Gromow oder allen Leuten im Saal etwas zuzurufen.

»Seht hin!... Er hat seinen Sohn ermordet!...« hätte er rufen mögen, und es war ihm, als brenne ihn etwas in der Kehle ...

»Sie sind angeklagt ...« begann Gromow zu irgend jemandem mit freundlicher Stimme; aber Ilja sah nicht, zu wem Gromow sprach: er sah nur in Petruchas Gesicht, ganz niedergedrückt von schweren Zweifeln und unfähig, sich mit der Tatsache abzufinden, daß dort ein Filimonow saß – als Richter! ...

»Sagen Sie, Angeklagter,« sprach der Vorsitzende mit träger Stimme, während er sich die Stirn rieb – »Sie haben zu dem Krämer Anissimow gesagt: ›Wart', das will ich dir heimzahlen‹?«

Irgendwo drehte sich kreischend ein Luftfenster.

»J–u ... i–u ... i–u ...«

Unter den Geschworenen sah Ilja noch zwei ihm bekannte Gesichter. Hinter Petrucha saß der Bauunternehmer Ssilatschew, ein großer Mensch mit langen Armen und einem kleinen, grimmig dreinschauenden Gesicht, ein Freund Filimonows, der immer mit ihm Puff spielte. Von Ssilatschew hieß es, er habe sich einmal auf dem Bau mit seinem Polier gezankt und diesen vom Gerüst gestoßen, was eine schwere Verletzung und den Tod des Poliers herbeigeführt habe. Und in der ersten Reihe, zwei Plätze von Petrucha entfernt, saß Dodonow, der Inhaber eines Engrosgeschäfts in Galanteriewaren, einer von Iljas Lieferanten, der schon zweimal Bankrott gemacht und seine Gläubiger mit zehn Prozent abgefunden hatte.

»Zeuge! Wann haben Sie gesehen, daß Anissimows Haus brannte? ...«

»J–u ... iju ... ju ... ju«, kreischte das Luftfenster, und auch in Ilja tönte es wie ein dumpfes Kreischen. »Der Dummkopf!« flüsterte leise jemand in Iljas Nähe. Ilja wandte sich um und erblickte dicht neben sich den kleinen schwarzen Menschen, der ihn draußen vor dem Gerichtsgebäude angesprochen hatte.

»Wer ist ein Dummkopf?« fragte Ilja.

»Der Angeklagte ... Hatte eine so schöne Gelegenheit, den Zeugen zu widerlegen – und hat sie verpaßt! Ich hätt' ihm ... äh!«

Ilja warf einen Blick auf den Angeklagten, einen hochgewachsenen Bauern mit eckigem Kopfe. Sein Gesicht war finster, erschrocken, und er fletschte die Zähne wie ein müder, verprügelter Hund, der sich, von den Gegnern umgeben, in eine Ecke drückt und nicht mehr die Kraft hat, sich zu verteidigen. Petrucha aber, Ssilatschew, Dodonow und die andern schauten ruhig, mit satten Augen, auf ihn. Es schien Lunew, daß sie alle einig waren in dem Gedanken:

»Hast dich erwischen lassen – also bist du schuldig ...«

»Es ist langweilig«, flüsterte der Nachbar Ilja zu. »Eine uninteressante Sache ... Der Angeklagte ist dumm, der Staatsanwalt – eine Schlafmütze, und die Zeugen sind Tölpel, wie immer. Wenn ich so Staatsanwalt wäre – ich hätte ihn in zehn Minuten verspeist ...«

»Ist er denn schuldig?« fragte Lunew, während ein frostiger Schauer ihn überlief.

»Ich glaube ... kaum – aber verurteilen kann man ihn ... Er versteht es nicht, sich zu verteidigen. Die Bauern verstehen das überhaupt nicht. Ein zu dämliches Volk! Nichts als Knochen und Fleisch – aber von Verstand und Fixigkeit: nicht die Spur!«

»Das stimmt ...«

»Haben Sie ein Zwanzigkopekenstück?«

»Ja...«

»Geben Sie es mir ...«

IIja zog seinen Geldbeutel hervor und gab ihm das Geldstück, noch bevor er es recht überlegt hatte, ob er es geben sollte oder nicht. Als er es bereits fortgegeben hatte, dachte er, während er seinen Nachbar mit unwillkürlicher Achtung von der Seite ansah:

»Der versteht's!«

»Meine Herren Geschworenen!« begann der Staatsanwalt mit sanfter, doch dabei eindringlicher Stimme. »Betrachten Sie einmal das Gesicht dieses Menschen – es ist beredter als die Aussagen der Zeugen, durch welche die Schuld des Angeklagten unwiderleglich festgestellt ist ... Dieses Gesicht muß Sie mit Notwendigkeit davon überzeugen, daß vor Ihnen ein Feind der gesetzlichen Ordnung, ein Feind der Gesellschaft steht ..«

Der Feind der Gesellschaft saß zwar, aber es mußte ihm wohl unschicklich erschienen sein, zu sitzen, während von ihm behauptet wurde, daß er stehe – und so erhob er sich langsam, mit gesenktem Kopfe. Seine Arme hingen kraftlos am Rumpfe herunter, und die ganze lange, graue Gestalt beugte sich vor, als wenn er sich vorbereitete, in den Schlund der Gerechtigkeit unterzutauchen ...

Als Gromow die Unterbrechung der Sitzung ankündigte, ging Ilja mit dem schwarzen Kerlchen zusammen auf den Korridor hinaus. Der Schwarze zog aus der Tasche seines Jacketts eine zerdrückte Zigarette, glättete sie mit den Fingern und sagte:

»Er beteuert in einem fort, der dumme Kerl, daß er das Haus nicht angezündet hat. Aber hier hilft kein Beteuern, hier heißt es: Hosen runter – und feste drauf feuern! ... Wir sind hier gestrenge Herren! Wie kann man einem Krämer die Bude ausräuchern?«

»Ist er schuldig oder nicht? Was meinen Sie?« fragte Ilja nachdenklich.

»Gewiß ist er schuldig, weil er eben – dumm ist. Kluge Leute pflegen nicht schuldig zu sein«, schwatzte der Kleine in seiner sicheren, raschen Weise, während er forsch seine Zigarette paffte.

»Unter den Geschworenen sitzen Leute ...« begann Ilja leise und schwerfällig.

»Geschäftsleute meistenteils«, fiel der Schwarze ihm ruhig ins Wort.

Ilja sah ihn an und sagte: »Einige davon kenn' ich ...«

»Aha! ...«

»Böse Brüder ... wenn man die Wahrheit sagen soll ...«

»Spitzbuben«, meinte der Kleine. Er sprach ganz laut, ohne sich irgendeinen Zwang aufzuerlegen. Als er seine Zigarette zu Ende geraucht hatte, spitzte er den Mund, begann zu pfeifen und guckte alle Leute unverfroren an, während alles an ihm, jedes kleinste Knöchelchen, in hungriger Unruhe zuckte.

»Das kann schon sein, daß Spitzbuben darunter sind«, fuhr er fort. »Überhaupt ist die ganze sogenannte Justiz in den meisten Fällen nichts weiter als eine Art Komödie ... von ganz leichter Art. Die satten Leute vertreiben sich damit die Zeit, die hungrigen Leute von ihren bösen Neigungen zu kurieren ... Ich war schon sehr oft bei Verhandlungen – aber ich hab's noch nie erlebt, daß die Hungrigen über einen Satten zu Gericht gesessen hätten ... Und wenn die Satten einen Satten verurteilen, dann geschieht 's höchstens wegen gar zu großer Gier ... Sollst nicht alles für dich nehmen, sollst auch uns was lassen ...« »Man sagt ja auch: Der Satte kann den Hungrigen nicht verstehen«, bemerkte Ilja.