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»Unsinn!« versetzte der Schwarze. »Ausgezeichnet versteht er ihn ... Darum ist er auch so streng gegen ihn ...«

»Ich will nichts dagegen sagen, wenn einer satt und ehrbar ist,« sagte Ilja halblaut, »aber wenn er satt ist und ein Schuft dazu – wie kann er dann einen Menschen richten?«

»Die Schufte sind die strengsten Richter«, versetzte das schwarze Kerlchen ruhig. »Na, jetzt wollen wir uns mal die Diebstahlsgeschichte anhören ...«

»Die Angeklagte kenn' ich«, sagte Lunew leise.

»Ah!« rief das Kerlchen und musterte Ilja mit einem raschen Blick. »Wollen uns mal Ihre Bekannte ansehen ...«

In Iljas Kopfe war es wirr und wüst. Er hätte den flinken kleinen Kerl, dem die Worte so glatt über die Lippen rollten wie Erbsen aus einem Sack, gerne noch manches gefragt, aber es war etwas Unangenehmes in dem ganzen Wesen dieses Menschen, das Lunew zurückschreckte. Im übrigen drückte die Vorstellung, daß ein Petrucha hier als Richter sitzen konnte, alles Denken in ihm nieder. Diese Vorstellung legte sich wie ein eiserner Ring um sein Herz und beengte darin den Raum für alles andere ...

Als er an die Saaltür kam, bemerkte er in der Menge vor der Tür den kräftigen Nacken und die kleinen Ohren Pawel Gratschews. Er war erfreut, ihn zu sehen, zupfte ihn am Ärmel seines Paletots und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Auch Pawel lächelte, aber man sah es ihm an, daß er sich dazu zwang.

Sie standen ein paar Sekunden lang einander schweigend gegenüber.

»Bist hergekommen, um dir's anzusehen?« sagte Pawel. »Und jene ... ist sie da?« fragte Ilja verwirrt.

»Wer?«

»Deine Ssofia Nik ...«

»Sie ist nicht ›meine‹ ...« unterbrach ihn Pawel frostig.

Sie betraten beide den Saal.

»Komm, setz' dich zu mir!« schlug Lunew vor.

»Ja ... siehst du ... ich bin in Gesellschaft ...« antwortete Pawel stotternd.

»Ach so ... na, auch gut ...«

»Auf Wiedersehen!«

Gratschew ging rasch nach der entgegengesetzten Seite. Ilja blickte ihm nach mit einem Gefühl, als ob Pawel ihm mit seiner Hand rauh über eine wunde Stelle am Körper gefahren wäre. Ein stechender Schmerz bemächtigte sich seiner. Es ärgerte ihn, daß Gratschew einen soliden, neuen Paletot trug, und daß sein Gesicht in diesen letzten Monaten eine gesündere, reinere Farbe bekommen hatte.

Auf der Bank, auf der Pawel Platz nahm, saß auch Gawriks Schwester. Pawel sprach etwas zu ihr, und sie wandte ihren Kopf rasch nach Lunew um. Als dieser ihr weit vorgestrecktes Gesicht auf sich gerichtet sah, wandte er sich ab, und seine Seele hüllte sich noch fester und dichter in Groll und Kränkung.

Man hatte Wjera in den Saal geführt: sie stand hinter dem Gitter in einem grauen, langen Rock ohne Taille und einem weißen Tuch auf dem Kopfe. Eine Strähne ihres goldblonden Haares drängte sich an der linken Schläfe unter dem Tuch hervor; die Wangen waren blaß, die Lippen fest geschlossen, und ihre weit geöffneten Augen sahen unbeweglich und ernst auf Gromow.

»Ja ... ja ... nein ...« klang ihre Stimme matt in Iljas Ohren.

Gromow sah sie freundlich an und sprach mit ihr in gedämpftem, weichem Tone, wie wenn ein Kater schnurrte.

»Bekennen Sie sich, schuldig, Kapitanowa, daß Sie in jener Nacht ...« kroch gleichsam seine geschmeidige, saftige Stimme an sie heran.

Lunew schaute auf Pawel, der mit tief vorgebeugtem Kopfe, die Augen zu Boden geschlagen, dasaß und seine Mütze in den Händen zerknüllte. Seine Nachbarin verharrte in kerzengerader Haltung und schaute drein, als ob sie selbst über alle – über Wjera, die Richter, das Publikum – zu Gericht säße. Ihr Kopf drehte sich bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, um ihre Lippen spielte ein verächtlicher Zug, und unter den zusammengezogenen Brauen blitzten die stolzen Augen kalt und streng ...

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte Wjera. Ihre Stimme klirrte gleichsam, wie wenn man an eine gesprungene feine Tasse klopfte.

Zwei von den Geschworenen, Dodonow und sein Nachbar, ein rothaariger, glattrasierter Mensch, steckten die Köpfe zusammen, bewegten leise die Lippen und betrachteten das Mädchen mit lächelnden Augen. Petrucha Filimonow hatte sich mit dem ganzen Körper vorgebeugt: sein Gesicht war noch röter als sonst, und sein Schnurrbart zuckte. Auch von den andern Geschworenen schauten einige auf Wjera mit einem ganz besonderen Ausdruck, den Lunew richtig deutete, und der seinen Unwillen erregte.

»Sollen über sie Gericht halten – und starren sie schamlos an, die lüsternen Kerle!« dachte er und biß die Zähne fest aufeinander. Und er hatte nicht übel Lust, Petrucha zuzurufen:

»He, du – Spitzbube! Woran denkst du?«

Es stieg ihm etwas in die Kehle wie eine schwere Kugel, und es würgte ihn und benahm ihm den Atem ...

»Sagen Sie mir, äh – Kapitanowa –« sprach der Staatsanwalt mit träger Stimme, während er die Augen herausdrückte wie ein Widder, dem die Hitze zusetzt – »beschäftigen Sie sich ... äh – schon lange mit der Prostitution?«

Wjera fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wenn seine Frage sich an ihren errötenden Wangen festgeklebt hätte.

»Schon lange«, antwortete sie fest. Durch das Publikum ging ein Flüstern, als ob Schlangen über den Boden kröchen. Gratschew bückte sich noch tiefer, als wollte er sich verstecken, und zerknüllte seine Mütze in den Händen.

»Wie lange schon? ...«

Wjera schwieg und sah ernst und streng, mit weit geöffneten Augen, Gromow ins Gesicht.

»Ein Jahr? Zwei Jahre? Fünf Jahre?« fragte der Staatsanwalt beharrlich.

Wjera schwieg noch immer. Grau, wie aus Stein gehauen, stand sie unbeweglich da, nur die Enden des Kopftuches bewegten sich auf ihrer Brust.

»Sie haben das Recht, nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen«, sprach Gromow und fuhr mit der Hand über seinen Schnurrbart.

Da sprang der Advokat auf, ein magerer Mensch mit spitzem Bärtchen und länglichen Augen. Seine Nase war dünn und lang und sein Nacken breit, was sein Gesicht einem Beile ähnlich erscheinen ließ.

»Sagen Sie, Kapitanowa, was hat Sie veranlaßt, sich ... diesem Gewerbe zu ergeben?« fragte er mit hellklingender, scharfer Stimme.

»Nichts hat mich veranlaßt«, antwortete Wjera und sah ihre Richter an.

»Hm ... das stimmt doch nicht ganz ... Sehen Sie ... mir ist bekannt ... Sie haben mir erzählt ...«

»Nichts ist Ihnen bekannt«, sprach Wjera. Sie wandte den Kopf nach ihm hin, maß ihn mit ihren Blicken und fuhr unwillig fort:

»Nichts hab' ich Ihnen erzählt ...«

Sie ließ ihre Augen über das Publikum hinschweifen, wandte sich dann zum Richtertisch und fragte, mit dem Kopfe nach dem Verteidiger nickend:

»Darf ich ihm die Antwort verweigern?«

Wiederum war es, als ob Schlangen durch den Saal huschten, aber diesmal zischten sie schon lauter und kräftiger. Ilja zitterte vor Aufregung und blickte auf Gratschew.

Er erwartete von ihm irgend etwas, erwartete es ganz bestimmt. Aber Pawel, der hinter seinem Vordermann hervorlugte, schwieg und rührte sich nicht. Gromow lächelte und sagte etwas mit glatten, süßlichen Worten. Dann sprach Wjera mit leiser, doch fester Stimme:

»Ich wollte reich sein, ganz einfach ... Darum nahm ich's, und weiter liegt nichts vor ... Bin immer so gewesen ...«

Die Geschworenen begannen miteinander zu flüstern. Ihre Gesichter verfinsterten sich, und auch auf den Gesichtern der Richter zeigte sich Unzufriedenheit. Im Saal war es still geworden; von der Straße her vernahm man ein gleichmäßiges, dumpfes Geräusch von Schritten – Soldaten marschierten vorüber.

»In Anbetracht des Geständnisses der Angeklagten würde ich vorschlagen ...« so begann der Staatsanwalt sein Plaidoyer.

Ilja hielt es auf seinem Platze nicht länger aus. Er erhob sich und begann auf und ab zu schreiten.