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»Ruhig da!« rief laut der Gerichtsdiener.

Da setzte er sich wieder und neigte, gleich Pawel, den Kopf auf die Brust. Er konnte das rote Gesicht Petruchas nicht sehen, das jetzt einen aufgeblasenen, wichtigtuerischen Ausdruck hatte, als wenn es durch etwas beleidigt wäre. Und in dem unverändert liebenswürdigen Gromow sah er hinter dem nachsichtigen Richter den Menschen mit dem eisig kalten Herzen und begriff, daß dieser allezeit heitere Herr gewohnt war, Menschen zu richten, wie ein Tischler gewohnt ist, Bretter zu hobeln. Und durch Iljas Seele zuckte der bittre Gedanke:

»Wenn ich bekennen wollte – dann würden sie mich ganz ebenso richten: Petrucha würde mich verurteilen! ... In die Zwangsarbeit würde er mich schicken, er selbst aber würde hier bleiben ...«

Ilja vertiefte sich in diesen Gedanken und saß da, ohne irgend jemand anzuschauen oder auf etwas zu hören.

»Ich will nicht, daß ihr darüber redet!« rief Wjera laut durch den Saal mit zitternder Stimme, im Tone tiefer Kränkung. Und sie begann zu schreien, faßte mit den Händen nach ihrer Brust und riß sich das Tuch vom Kopfe.

»Ich will nicht ... Ich will nicht!«

Wirrer Lärm erfüllte den Saal. Alle waren durch das Geschrei des Mädchens in Aufregung versetzt. Wjera aber warf sich hinter dem Gitter hin und her, als hätte sie sich verbrannt, und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus.

Ilja stand auf und wollte sich vorwärts stürzen, aber das Publikum riß ihn mit fort, und plötzlich sah er sich auf den Korridor hinausgedrängt.

»Ihre Seele haben sie entblößt!« vernahm er die Stimme des kleinen Schwarzen.

Pawel Gratschew stand bleich und verstört an der Wand, seine Kinnlade bebte. Ilja trat auf ihn zu und sah mit finstren, boshaften Augen in das Gesicht des alten Freundes.

»Was nun?« sprach er bitter zu Pawel. Dieser sah ihn an, öffnete den Mund und fand keine Worte.

»Hast einen Menschen auf dem Gewissen«, sagte Lunew zu ihm.

Da fuhr Pawel zusammen, als ob ein Peitschenhieb über seinen Rücken gesaust wäre, hob die Hand empor, legte sie auf Lunews Schulter und fragte erregt:

»Bin ich wirklich schuld? Wir werden appellieren.«

Ilja befreite seine Schulter von Pawels Hand. Er wollte ihm zurufen:

»Ja, du bist schuld! Hättest frei hinausrufen sollen, daß sie für dich gestohlen hat!«

Aber statt dessen sagte er:

»Und Petrucha Filimonow ist ihr Richter! ... Ist das Gerechtigkeit, wie?« Und er lächelte.

Pawel richtete sich auf, sein Gesicht wurde rot, und er begann hastig irgend etwas darzulegen, doch Lunew hörte nicht auf ihn, sondern wandte sich zum Gehen.

Mit einem Lächeln um den Mund trat er auf die Straße hinaus und ging langsam weiter. Bis zum Abend wanderte er wie ein verlaufener Hund von Straße zu Straße, bis ein herbes Hungergefühl ihn aus seinem Brüten weckte.

XXVI

In den Fenstern der Häuser flammten die Lampen auf, und gelbe, breite Lichtstreifen, in denen sich die Schatten der Fensterblumen abhoben, fielen auf die Straße. Lunew blieb stehen, schaute auf die Schattenbilder und dachte an die Blumen in Gromows Garten, an Gromows Frau, die einer Königin der Sage glich, und an die traurigen Lieder, die man in ihrem Hause sang, und die doch keinen ihrer Gäste am Lachen hinderten ... Eine Katze schlich mit unhörbaren Schritten, vorsichtig die Pfoten aufs Pflaster setzend, über die Straße.

»Ein Wirtshaus ... ich will hineingehen ...« dachte Ilja, als er aus einem hell erleuchteten Hause auf der anderen Straßenseite Musik vernahm, und betrat den Straßendamm.

»Heda, Vorsicht!« schrie ihn jemand an. Dicht vor seinem Gesicht sah er das schwarze Maul eines Pferdes, das ihn mit seinem warmen Atem anhauchte. Er sprang zur Seite, horchte auf das Schimpfen des Kutschers zurück und entfernte sich wieder von dem Wirtshaus.

»Von einem Mietskutscher will ich mich nicht totfahren lassen«, dachte er ruhig. »Ich will nun etwas essen ... Die arme Wjera ist wohl jetzt ganz verloren ... Wie stolz sie war! ... Von Paschka wollte sie nichts sagen ... sah, daß es sich nicht lohnte, vor dieser Gesellschaft von ihm zu sprechen ... Ein wackeres Mädchen – besser als alle andern! Olympiada hätte ... nein, auch Olympiada hat Charakter ... Aber Tanjka, die hätte sich herauszuwinden gewußt ...«

Es fiel ihm ein, daß Tatjana gerade heute ihren Geburtstag feierte und ihn zu sich eingeladen hatte. Anfangs empfand er Widerwillen bei dem Gedanken, dieser Einladung zu folgen. Aber fast in demselben Augenblick durchzuckte ein anderes, scharfes, stechendes Gefühl sein Herz ...

Er nahm eine Droschke und stand ein paar Minuten später, vom Licht geblendet, in der Tür des Speisezimmers der Awtonomows. Mit blödem Lächeln schaute er auf die Menschen, die dicht nebeneinander um den Tisch des großen Zimmers herum saßen.

»Ah–ah! Da ist er ja!« rief Kirik. »Hast du Konfekt mitgebracht? Oder sonst ein Geschenk für das Geburtstagskind? He? Wie steht's damit, Bruderherz?«

»Woher kommen Sie denn?« fragte ihn die Hausfrau.

Kirik faßte ihn am Ärmel, führte ihn um den Tisch herum und stellte ihn den Gästen vor. Lunew drückte verschiedene warme Hände, die Gesichter der Gäste aber flossen in seinen Augen in ein einziges langes, lächelndes Gesicht mit großen Zähnen zusammen. Bratengeruch kitzelte seine Nase, das knatternde Geplauder der Frauen klang in seinen Ohren, und in den Augen hatte er ein heißes Gefühl, als wenn ein bunter Nebel sie umzöge. Als er sich setzte, merkte er, daß seine Beine ganz schwer waren vor Müdigkeit, und daß der Hunger in seinen Eingeweiden wühlte. Er nahm schweigend ein Stück Brot und begann zu essen. Einer der Gäste schneuzte sich ganz laut, und in diesem Augenblick sagte Tatjana Wlaßjewna zu ihm:

»Wollen Sie mir nicht gratulieren? Sie sind nett! Kommt, sagt kein Wort, setzt sich hin und ißt! ...«

Unter dem Tische stieß sie kräftig mit ihrem Fuße gegen den seinigen. Da legte er das Stück Brot auf den Tisch, rieb sich die Hände und sagte laut:

»Ich hab' heute den ganzen Tag im Gerichtssaal zugebracht ...«

Seine Stimme übertönte die Unterhaltung der Geburtstagsgäste. Lunew, der ihre Blicke auf seinem Gesichte fühlte, ward verlegen und schielte von der Seite nach ihnen hin. Man sah ihn mißtrauisch an – offenbar zweifelten alle, daß dieser breitschultrige, kraushaarige Bursche überhaupt imstande sein würde, etwas Interessantes zu sagen. Peinliches Schweigen herrschte im Zimmer. In Iljas Kopfe wirbelten zusammenhangslose Gedankenflocken, die plötzlich irgendwo versanken und im Dunkel seiner Seele verschwanden.

»Im Gerichtssaal ist's manchmal sehr interessant«, bemerkte Felizata Gryslowa, während sie mit einer kleinen Zange in einer Schachtel mit Süßigkeiten herumstocherte.

Auf Tatjana Wlaßjewnas Wangen erschienen rote Flecke, während Kirik sich laut räusperte und zu IIja sagte:

»Was ist denn das, Bruder? Holst mit der Faust aus und schlägst nicht zu! Na, du warst also im Gerichtssaal ...«

»Ich bring' sie in Verlegenheit«, dachte Ilja bei sich, und seine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln. Die Gäste nahmen ihre Unterhaltung wieder auf.

»Ich hörte einmal eine Verhandlung in einer Mordsache an«, erzählte ein junger Telegraphist, ein schwarzäugiger, blasser Mensch mit einem kleinen Schnurrbart.

»Ich lese und höre zu gern Mordgeschichten«, rief die Trawkina. Ihr Gatte aber ließ seinen Blick über die Anwesenden hinschweifen und sagte:

»Das öffentliche Gerichtsverfahren ist eine ungemein wohltätige Einrichtung ...«

»Es handelte sich um meinen Kollegen Jewgenijew«, fuhr der Telegraphist fort, »Er hatte gerade Dienst, scherzte mit einem Jungen und erschoß ihn plötzlich.«

»Ach, wie entsetzlich!« rief Tatjana Wlaßjewna.

»Mausetot war er gleich!« fügte der Telegraphist mit einer gewissen Befriedigung hinzu.