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»Und ich war einmal Zeuge in einer Sache,« begann Trawkin mit seiner rasselnden Stimme, »und da fand noch eine zweite Verhandlung gegen einen Kerl statt, der dreiundzwanzig Diebstähle begangen hatte. Nicht übel, was?«

Kirik lachte laut auf. Das Publikum teilte sich in zwei Gruppen: die einen hörten auf die Erzählung des Telegraphisten über den Mord des Knaben, die andern auf die langweilige Geschichte Trawkins von dem Manne, der dreiundzwanzig Diebstähle begangen hatte. Ilja beobachtete die Gastgeberin und hatte dabei das Gefühl, daß in seinem Innern ein Flämmchen sich entzündet hatte – es leuchtete noch nicht, versengte jedoch sein Herz bereits empfindlich. Seit Lunew begriffen hatte, daß die Awtonomows befürchteten, er könnte sie vor ihren Gästen kompromittieren, war in seine Gedanken eine gewisse Ordnung gekommen.

Tatjana Wlaßjewna machte sich im Nebenzimmer an dem Tische, auf dem die Flaschen standen, zu schaffen. Ihre rotseidene Bluse hob sich wie ein greller Fleck von den hellen Tapeten ab; sie gaukelte wie ein Schmetterling durchs Zimmer, und auf dem kleinen Gesichtchen strahlte der Stolz der Hausfrau, die alles in schönster Ordnung weiß. Zweimal bemerkte Ilja, daß sie mit raschen, kaum merklichen Zeichen ihn zu sich rief, aber er ging nicht und fand ein Vergnügen darin, zu wissen, daß sie das beunruhigte.

»Was ist denn mit dir, Bruder? Du sitzt ja wie eine Eule da!« wandte sich plötzlich Kirik an ihn. »So sprich doch ... genier' dich nicht ... Hier sind gebildete Leute, die werden es dir nicht übel nehmen, wenn du mal danebenhaust ...«

»Heute stand ein Mädchen vor Gericht,« begann Ilja plötzlich mit lauter Stimme, »eine Bekannte von mir ... Sie ist eine Dirne, wissen Sie, aber ein treffliches Mädchen.«

Wiederum zog er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, wieder starrten alle Gäste ihn an. Ein breites, ironisches Lächeln entblößte die Zähne Felizata Jegorownas, der Telegraphist begann an seinem Schnurrbart zu drehen und suchte dabei mit der Hand den Mund zu verdecken, und fast alle gaben sich den Anschein, als ob sie ernst und aufmerksam zuhörten. Plötzlich ließ Tatjana Wlaßjewna einen Kasten mit Gabeln und Messern fallen, und das laute Geräusch, das sie verursachten, hallte im Herzen Iljas als wilde Schlachtmusik wider ... Er ließ seine weit geöffneten Augen ruhig über die Gesichter der Gäste gleiten und fuhr fort:

»Was lächeln Sie denn? Es gibt wirklich ganz vortreffliche Mädchen unter ihnen ...«

»Das mag schon sein,« unterbrach ihn Kirik, »aber du brauchst das hier nicht gerade ... nicht gar zu offen ...«

»Sie sind ja gebildete Leute,« meinte Ilja, »werden's nicht weiter übelnehmen, wenn ich mal danebenhaue ...«

Eine ganze Garbe von grellen Funken sprühte plötzlich in ihm auf. Ein schneidendes Lächeln erschien auf seinem Gesichte, und sein Herz ward beklommen von dem lebhaften Andrang der Worte, die plötzlich aus seinem Hirn hervorquellen wollten.

»Das Mädchen hatte einem Kaufmann Geld gestohlen ...«

»Scheint wirklich ein treffliches Mädchen«, meinte Kirik und schnitt eine komische Grimasse.

»Sie können sich wohl vorstellen, bei welcher Gelegenheit sie ihm das Geld gestohlen hat ... Aber vielleicht hatte sie es gar nicht gestohlen – vielleicht hatte er's ihr geschenkt ...«

»Tanitschka!« rief Kirik – »komm doch mal her! Ilja erzählt hier so merkwürdige Anekdoten ...«

Aber Tatjana Wlaßjewna stand bereits neben Ilja und sprach achselzuckend, mit gezwungenem Lächeln:

»Was ist denn da Großes? Eine ganz alltägliche Geschichte ... Du, Kirik, kennst solche Geschichten zu Hunderten ... junge Mädchen sind doch nicht da ... Aber lassen wir das für später, Herrschaften – jetzt wollen wir einen kleinen Imbiß nehmen ...«

»Ich bitte recht sehr!« rief Kirik. »Auch ich will noch mal anbeißen, he, he! Der Witz ist zwar nicht weit her, aber na ...«

»Tut nichts, er regt den Appetit an«, sagte Trawkin und streichelte sich die Kehle.

Alle wandten sich von Ilja ab. Er begriff, daß die Gäste ihn nicht anhören mochten, da die Gastgeber es nicht wünschten, und das spornte ihn nur noch mehr an. Er erhob sich vom Stuhle und sprach, zu allen gewandt:

»Und über dieses Mädchen saßen Leute zu Gericht, die vielleicht selbst mehr als einmal sie gebraucht hatten ... Einige davon kenn' ich – und wenn ich sage, es sind Spitzbuben, so ist das noch viel zu mild ...«

»Erlauben Sie!« sagte Gryslow streng, während er seinen Zeigefinger emporhob – »so dürfen Sie nicht reden! Das sind – Geschworene ... und ich selbst ...«

»Ganz recht, Geschworene!« rief Ilja aus. »Aber können diese Leute gerecht urteilen, wenn ...«

»Erlau–ben Sie! Das Geschworenengericht ist eine der großen Reformen, die zum allgemeinen Wohl von Kaiser Alexander dem Zweiten eingeführt worden sind. Wie können Sie über eine staatliche Einrichtung solche Schmähungen aussprechen?«

Er krächzte seine Worte Ilja ins Gesicht, und seine glattrasierten, fetten Backen zitterten dabei, während seine Augen von rechts nach links und wieder zurück rollten. Alle umringten sie in dichtem Kreise, in dem angenehmen Gefühl eines bevorstehenden Skandals. Die Gastgeberin zupfte, ganz blaß und aufgeregt, die Gäste an den Ärmeln und rief: »Ach, Herrschaften, lassen wir das doch! Es ist so uninteressant! – Kirik, so bitt' doch die Damen und Herren ...«

Kirik guckte zerstreut bald dahin, bald dorthin und rief:

»Ich bitte recht sehr! ... Gott segne sie, diese Reformen und Proformen, samt aller Philosophie ...«

»Das ist keine Philosophie, sondern Po–li–ti–ik!« krächzte Trawkin, »und Leute, die solche Meinungen äußern wie der Herr da, nennt man politisch verdächtig!«

Ilja war wie von einem heißen Strudel erfaßt. Es machte ihm Vergnügen, diesem dicken, glattrasierten Menschen mit den feuchten Lippen gegenüberzustehen und zu sehen, wie er sich ärgerte. Das Bewußtsein, daß die Awtonomows sich ihren Gästen gegenüber in Verlegenheit befanden, bereitete ihm ein ganz besonderes Vergnügen. Er ward immer ruhiger, und der innere Drang, mit diesen Leuten abzurechnen, ihnen dreiste Worte zu sagen, sie bis zur Raserei zu ärgern, richtete sich in ihm wie eine stählerne Sprungfeder auf und hob ihn zu einer Höhe empor, in der ihm zugleich wohl und schaurig zumute war. Immer ruhiger und fester klang seine Stimme.

»Nennen Sie mich, wie Sie wollen,« sagte er zu Trawkin – »Sie sind ja ein gebildeter Mann. Ich aber bleib' bei meiner Meinung, und ich frage: kann der Satte den Hungrigen verstehen? ... Mag der Hungrige ein Dieb sein – aber der Satte ist erst recht ein Dieb! ...«

»Kirik Nikodimowitsch!« schrie Trawkin wütend – »was ist das? Ich ... darf das nicht ...«

In diesem Augenblick jedoch schob Tatjana Wlaßjewna ihren Arm unter den seinigen, zog den Erregten mit sich fort und sagte laut zu ihm:

»Kommen Sie, Ihre geliebten Brötchen sind da – mit kleinen Heringen und harten Eiern und grüner Zwiebel, in Sahnenbutter zerrieben ...«

»Ha! Das darf ich ... nicht so hingehen lassen!« rief Trawkin tief empört und schmatzte mit den Lippen. Seine Gattin warf Ilja einen vernichtenden Blick zu, nahm den andern Arm ihres Gemahls und sprach zu ihm:

»Reg' dich nicht auf, Anton ... um solche Kleinigkeiten ...«

Und Tatjana Wlaßjewna fuhr fort, den teuren Gast zu beruhigen:

»Marinierter Sterlet mit Paradiesäpfeln ...«

»Das war nicht schön von Ihnen, junger Mann,« sprach plötzlich Trawkin, zugleich vorwurfsvoll und großmütig, während er sich mit den Füßen gegen den Boden stemmte und Ilja den Kopf zuwandte – »das war nicht schön! Man muß die Dinge richtig zu schätzen wissen ... man muß sie begreifen, ja!«

»Ich begreif sie aber nicht«, rief Ilja. »Darum red' ich eben ... Wie kommt es, daß Petruschka Filimonow der Herr des Lebens ist?«

Die Gäste gingen an Lunew vorüber und vermieden es sorgfältig, ihn zu streifen. Kirik aber trat dicht an ihn heran und sagte in grobem, beleidigendem Tone: