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Betje stellte den nahezu kahlen Besen in die Ecke, strich sich die Locken aus dem Gesicht und sah sich um. Dem Ruß von Feuerstelle und Öllampe war nicht dauerhaft beizukommen. Fortwährend sickerte der feuchtklebrige Schmutz der Stadt durch die Ritzen im Holz, aber sie hatte ihr Möglichstes getan. Allzu genau brauchte sie es auch nicht zu nehmen, im Schatten der Nachbarhäuser spendete das enge Fensterchen nur wenig Licht. Trotzdem war Betje mit ihrem Werk zufrieden. Sie kam gut zurecht, seit sie sich so viel Zeit lassen konnte, wie sie brauchte, und niemand sie schalt, weil sie sich ungeschickt anstellte.

Dies war ganz ihr Reich, ihres und Hannos. Auch wenn es nicht mehr als ein Bretterverschlag war, der an einer Hausmauer unweit von Pawels Werkstatt klebte, gerade groß genug für zwei Strohsäcke, einen kleinen Tisch und zwei Stühle. In der Neustadt war Wohnraum knapp; sie konnten von Glück sagen, dass sie sich die Behausung nicht mit einem Dutzend fremder Menschen teilen mussten oder als Schlafgänger lebten, die sich für ein paar Groschen in anderer Leute Betten legen durften, solange diese bei der Arbeit waren.

Betje angelte unter ihrem Strohsack das winzige Bündel hervor, das sie dort verwahrte. Drei Mark und zwölf Pfennig lagen vor ihr auf dem Boden, als sie das Tuch entfaltet hatte. Jeden Tag zählte sie aufs Neue ihr Erspartes, halb in der Angst, es könnte sich über Nacht in Luft aufgelöst haben, halb mit dem heißen Wunsch, es könnte sich stattdessen von selbst vermehrt haben.

Achtzig Mark kostete der Platz auf einem Schiff nach Amerika, hatte Pawel gesagt, für Kinder die Hälfte. Und dann hätte sie in den sechs Wochen der Überfahrt noch nichts gegessen. Kein Geld, um danach weiterzukommen, auf der Suche nach ihren Eltern und den Geschwistern.

Drei Mark und zwölf Pfennig. Mehr hatte sie nicht zur Seite legen können, in dem halben Jahr, das sie nun schon in der Stadt war.

Hamburg war teuer. Was Hanno bei Pawel verdiente, reichte gerade für die Miete und um ihre Mägen leidlich zu füllen. Es half, dass sie alles, was sie sonst noch brauchten, aus Pawels Werkstatt bekommen konnten und ab und zu sogar dort aßen. Jedes Mal war es ein Freudentag, wenn Hanno irgendwo eine Speisekammer entrümpelte, als Dankeschön für das Ausmisten hier mal ein Glas Eingemachtes geschenkt bekam, dort mal eine Wurst oder ein paar Äpfel. Allzu oft jedoch blieb Betje nichts anderes übrig, als ein paar Groschen des mühselig zusammengekratzten Geldes wieder abzuzwacken, um davon Brot zu kaufen.

36 Mark und 88 Pfennig fehlten ihr noch. Mindestens. Und auch nur, solange sie noch als Kind durchging. In etwas über einem Jahr, mit zwölf, wäre es damit vorbei. Es sei denn, es würde ihr gelingen, sich jünger zu schummeln.

Das Gefühl von Hoffnungslosigkeit, das sich ihr aufdrängte, erstickte sie im Keim. So schnell gab sie nicht auf, sie wusste ja, wie sie zu ein paar Pfennigen kommen konnte. Eilig zog sie sich die Männerjoppe über, die trotz der Mottenlöcher wärmer war als das Schultertuch, das sie früher zu Hause getragen hatte, zögerte jedoch, in die Holzpantinen zu steigen.

Schließlich entschied sie sich dagegen, trat barfuß nach draußen und zerrte die wackelige Lattentür hinter sich zu.

Ein alter Mann, der Backenbart weiß und flauschig wie Schönwetterwolken, schleppte sich vorwärts, indem er seine beiden Gehstöcke abwechselnd aufsetzte und sich in unendlicher Langsamkeit daran durch die Gasse zog. Betje sah ihn oft, immer an dieser Ecke, sodass sie nicht wusste, ob er jeden Tag hier vorbeikam oder es einfach nicht schaffte, sich wirklich von der Stelle zu bewegen. In einem hastigen Schlenker wich sie einem anderen Mann aus, der auf unsicheren Beinen von einer Seite zur anderen torkelte, nach Pisse und Schnaps stank, dabei hatte der Türmer von Sankt Michaelis gerade erst das Morgenlied geblasen.

Mit schnellen Schritten fädelte Betje sich zwischen den Häusern hindurch, die an die Waben eines Bienenstocks erinnerten. Sie kam an Brettverschlägen vorüber, die an den Mauern wucherten wie Pilze an einem faulenden Baumstamm. Hier gab es viel zu zählen: die Fensterreihen der schiefen Häuser und die Türen, die im Kommen und Gehen der Leute auf- und wieder zuklappten, und die Sprünge im Mauerwerk. Die Hemden und Blusen und Leintücher derer, die sich welche zum Wechseln leisten konnten und sie zum Trocknen aus den Fenstern hängten. Umherstrolchende Katzen und ihre Widersacher, die fetten Ratten, gleichermaßen in Angst und Schrecken versetzt von den bitterbösen Angreifern aus der Luft, den Krähen. Die Handkarren und Kiepen derjenigen, die etwas zu tun hatten, die Tabakspfeifen der Männer und die Körbe der Frauen und den Stundenschlag des Michels.

»Moin!«, krächzte es unweit von Betje.

Auch diesen Burschen sah sie bei Wind und Wetter hier sitzen, gleich, ob morgens, mittags oder abends. Klapperdürr in löchrigen Hosen und zerschlissener Jacke, ein Messer in der Hand, mit dem er an einem Stück Holz herumschnitzte. Sein hohlwangiges Gesicht war unter der Mütze eigentümlich in die Länge gezogen, die schielenden Augen tief eingesunken. Betje grüßte schüchtern zurück, wie sie es jedes Mal tat, seit sie begriffen hatte, dass er nichts anderes von ihr wollte. Ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, bevor er weiter jedem, der seines Weges kam, heiser den Gruß entgegenrief, in der Hoffnung auf ein wenig Aufmerksamkeit.

Es gab viele hier wie ihn und Betje, krumm und schief gewachsen. Fiete, zum Beispiel, der ein langes und ein kurzes Bein hatte und mit dem Hanno manchmal am Sonntag, der Pawel heilig war, auf der Gasse saß. Oder die kleine Anna mit der Hasenscharte, die rotznasig durch die Gassen irrte und von der keiner so recht wusste, wo sie hingehörte. Lahm oder blind, manche bestimmt taub oder stumm, andere sichtlich schwerfällig oder durcheinander im Kopf: Für wen es auf der Welt keinen anderen Platz gab, der fand hier eine Mauerritze. Ein merkwürdiges Gefühl für Betje, plötzlich eine unter vielen zu sein, und doch nützte es ihr nichts. Hier, wo die Not an jeder Ecke lauerte, war damit kein Geld zu holen.

Betje lief weiter, zwischen hohen Häusern hindurch und über die Brücken der Fleete. Verwunderlich war es, dass diese Stadt, so klobig und klotzig, nicht einfach im Wasser versank. Dass sie nicht im Schlamm einknickte, der bei Ebbe den Gestank von Gülle verbreitete. Selbst bei Flut roch es streng aus manchen Fleeten; die Ausdünstungen dessen, was die Menschen und ihre Gewerbe hinterließen, konnte auch noch so viel Wasser nicht wegspülen.

Die Kirche von Sankt Nikolai zeichnete sich mächtig gegen den Herbsthimmel ab. Von einer grauen Strenge, die auf dem freundlichen Marktplatz mit seinen schmucken Häusern geradezu hartherzig wirkte. Nach der stillen Marsch war die Stadt immer noch überwältigend laut für Betje. Besonders hier, wo die Marktschreier ihr Gemüse und Obst anpriesen, ihren Schellfisch und Hummer, die Mundarten des Nordens wie das Brodeln in einem Kochtopf.

Zwischen den Schankwirtschaften auf der einen Seite des Platzes und den feinen Bürgerhäusern auf der anderen suchte Betje sich eine Stelle, wo es nicht allzu sehr nach den Abfällen von Fisch und Fleisch stank. In einigem Abstand zu den Krämerläden und dem Wollwarenhändler und dem Uhrmacher, dem Tabakgeschäft und der Steinzeughandlung ließ sie sich nieder, denn die Geschäftsleute wurden schnell böse, wenn sie vor ihren Türen herumlungerte. An die Hauswand gelehnt, drapierte Betje ihren lahmen Arm so in den Schoß, dass er gänzlich kaputt aussah, und sank mitleidheischend in sich zusammen.

Hanno mochte es nicht, wenn sie betteln ging. Das hatte sie ihm angesehen, als sie ihm erklärte, woher sie das Geld hatte. Gesagt hatte er jedoch nichts, er wusste ebenso gut wie Betje, dass es keine Arbeit gab für ein Mädchen, das noch nicht einmal tatkräftig beide Blusenärmel hochkrempeln konnte. Sogar für einen kräftigen Dreizehnjährigen wie ihn war es schwer, mehr als ein paar Groschen zu verdienen, Hanno hatte sich umgehört. Sie konnten von Glück sagen, dass er bei Pawel untergekommen war.

Betje schämte sich selbst dafür, hier wie ein Häuflein Elend zu sitzen. Doch wenn die Leute sowieso glotzten, konnten sie auch ruhig etwas dafür springen lassen. Es war leichter, seit sie gelernt hatte, dass sie mehr erwarten konnte, wenn sie die Augen demütig niederschlug, anstatt den Menschen ins Gesicht zu sehen.