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Während sie darauf wartete, dass ein mildtätiger Herr ein paar Pfennige hinwarf oder eine herzensgute Frau ihr eine Birne oder Zwetschge schenkte, hatte Betje alle Zeit der Welt. Sie zählte die Schuhe und Stiefel, die an ihr vorübereilten, und die verwilderten Hunde, die sich zähnefletschend um die Reste von Fisch und Fleisch zankten.

»Uns leev Herrgott Segen«, murmelte sie, sobald eine Münze neben ihren schmutzigen Füßen landete.

Dafür hatte sie noch keine Worte im leichten und klaren Zungenschlag Hamburgs, der ihr Ostfriesisch zu verdrängen begann.

Vom Weißbäcker her duftete es verlockend, und aus dem Gewürzladen wehten fremdartige Gerüche herüber. Betjes Magen zog sich knurrend zusammen, während sie von üppigen Mahlzeiten träumte und von Amerika.

Inmitten der braven Hausfrauen, die an den Ständen und Karren ihre Körbe mit Kartoffeln und Eiern füllten, entdeckte Betje ein bekanntes Gesicht. Kühn geschnitten, mit Linien und Winkeln, denen man hierzulande nicht häufig begegnete. Kohlschwarz ringelte sich das Haar unter der Kappe hervor, und in den dunklen Augen funkelte es, während der Bursche sich in geschmeidigen Schritten zwischen den Leuten hindurchdrängte.

Zacharias’ Vater soll ein Seemann gewesen sein, hatte Hannos Freund Fiete erzählt, aus Spanien oder Portugal. Womöglich sogar ein Pirat, hatte er atemlos hinzugefügt, und Hanno hatte gelacht.

Es war unmöglich, Zacharias nicht zu kennen, der durch die Gassen der Neustadt streifte wie ein Prinz durch die Wälder seines Reichs. Meist war er von einer ganzen Blase Kinder umringt, die sich darum drängelten, dass er ihnen mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuhörte oder ihnen eine Geschichte erzählte. Mal zauberte er einem von ihnen ein Bonbon hinter dem Ohr hervor, mal zog er eine Kupfermünze aus den Haaren eines anderen. Manchmal steckte er mit anderen Burschen die Köpfe zusammen, ein vergnügter Haufen, der ruppig und lautstark miteinander herumalberte und raufte.

Jeder schien Zacharias zu mögen. Vor allem die Mädchen. Ab und zu hatte er eines in seinem Alter bei sich, immer wieder ein anderes. Hübsche Mädchen, die scheu seine Hand hielten, sich rotwangig und mit schimmernden Augen an ihn schmiegten. Einmal hatte Betje beobachtet, wie er in den Schatten einer Mauer ein solches Mädchen küsste, ihre Zungen emsig am Werk. Iih .

Fasziniert hatte es sie trotzdem.

Betje wusste nicht, warum, aber es wäre ihr peinlich gewesen, ausgerechnet von Zacharias beim Betteln erwischt zu werden. Hastig sammelte sie die Münzen in ihre Schürzentasche und sprang auf die Füße. Keinen Augenblick zu spät; die Hände in den Taschen seiner ausgebeulten Hose, schlenderte Zacharias auf Stiefelsohlen heran.

»Moin, Betje.«

Fünfzehn oder sechzehn mochte er sein, schwer zu sagen, hoch aufgeschossen, wie er war, die Stimme schon tief.

Misstrauisch runzelte Betje die Stirn. »Woher weißt du, wie ich heiße?«

»Mir entgeht nichts in den Gängen der Stadt.« Zacharias hatte ein schönes Lächeln, beiderseits seines kräftigen Mundes zeigten sich dabei Grübchen. »Und es gibt nicht viele Mädchen mit Haaren wie Herbstlaub.«

Betje stieg das Blut ins Gesicht, verlegen rieb sie mit einem Fuß über den anderen. Seit niemand mehr ihre roten Locken stutzte, kräuselten sie sich bis auf die Schultern, wilder als je zuvor.

»Wolltest du auch gerade da lang?«

Zacharias’ Kopf ruckte in Richtung der Marktbuden auf der anderen Seite des Platzes, einladend geradezu. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie noch ein Kind war und einen lahmen Arm hatte.

Betje nickte, ohne nachzudenken, nur um nicht zugeben zu müssen, weshalb sie wirklich hier war. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, bummelte sie neben Zacharias an den Aalfrauen vorbei, an den aufgestapelten Kohlköpfen, den Kartoffelbergen und den Käselaiben.

»Wo bist du her?«, fragte Zacharias.

»Aus Ostfriesland.«

»War ich noch nie. Wie ist es da?«

Betje erzählte von den weiten Wiesen und Feldern unter dem offenen Himmel und dass man in der Marsch manchmal förmlich spüren konnte, wie das Wasser im Boden zum Himmel aufstieg und sich zu Regenwolken ballte.

»Klingt schön«, kam es nachdenklich von Zacharias. »Friedlich. Anders als hier.«

Sein Blick wanderte über die Äpfel und Birnen und Gurken, die an den Ständen ausgebreitet lagen; eine freundliche Erinnerung daran, dass es jenseits der Stadttore ein altes Land mit saftigen und grünen Böden gab.

»Ich bin ewig nicht mehr zu Hause gewesen«, sagte Zacharias nach einer kleinen Pause. »Ich weiß nicht mal recht, was das ist, ein Zuhause.«

Zacharias’ Mutter soff, hatte Fiete zu berichten gewusst, und dass sie sich für ein paar Groschen fremden Männern anbot. Betje wusste nicht genau, was sie sich da runter vorstellen sollte, aber Hannos betretenes Schweigen hatte darauf schließen lassen, dass es nichts Gutes war.

»Ist auch für mich nicht leicht, über die Runden zu kommen, weißt du«, fügte Zacharias hinzu.

Dass er sehr wohl gesehen hatte, wie sie bettelte, ließ Betjes Gesicht erneut heiß werden. Sein ehrliches Eingeständnis, selbst harte Zeiten zu kennen, obwohl er immer ein weißes Hemd trug, eine gute Jacke, machte es jedoch weniger schlimm.

Für einen Wimpernschlag leuchtete es in seiner Hand rot auf, bevor sie wieder in seiner Hosentasche verschwand. Ungläubig blinzelte Betje zwischen der Apfelkiste und Zacharias hin und her, unsicher, ob ihre Augen ihr gerade einen Streich gespielt hatten.

»Hier. Für dich.«

Den Apfel, den er ihr ein paar Schritte weiter hinhielt, räumte jeden Zweifel aus. Betje schüttelte erschrocken den Kopf.

»Warum nicht?«

Verführerisch glänzte der Apfel in Zacharias’ Burschenhand und duftete wie eine ganze Blumenwiese. Betje schluckte den Speichel hinunter, der sich in ihrem Mund sammelte.

»Der ist gestohlen.«

»Was glaubst du, wer es nötiger hat – du oder die da?«

Betje schielte über ihrer Schulter zu der Obstfrau, die adrett in Bluse, Rock und Schürze ein Schwätzchen hielt, weder verhärmt noch notleidend aussah.

»Trotzdem.«

Zacharias ließ nicht locker. »Ist ganz leicht, mit ein wenig Übung. Auch mit nur einer Hand.«

»Solange ich ehrlich bleiben kann«, erwiderte Betje entschieden, »bleibe ich auch ehrlich.«

Zacharias betrachtete den Apfel, den er zwischen den Fingern drehte, wie schuldbewusst.

»Ich wäre gern so anständig wie du.« Er zuckte mit den Schultern. »Bin ich aber nicht.« Krachend biss er hinein.

In Betjes Beinen kribbelte es. Am liebsten wollte sie einfach kehrtmachen. Doch die Art, wie Zacharias durch das Leben ging, übte einen unwiderstehlichen Sog auf sie aus. Sie hatte das Gefühl, sich bei jedem Schritt neben ihm ein bisschen mehr zu strecken, dem jungen Mädchen entgegen, das sie einmal sein würde.

»Willst du irgendwann zurück nach Ostfriesland?«, fragte Zacharias zwischen zwei Bissen.

Betje schüttelte den Kopf. Um keinen Preis hätte sie zugegeben, dass sie ein paarmal daran gedacht hatte. Als sie sich zwar nicht hungrig zum Schlafen auf den Strohsack bettete, aber doch mit dem nagenden Gefühl eines halb leeren Magens. Wenn sich der Schlechtwetterhimmel erdrückend auf die Dächer der Stadt legte wie der Deckel eines Tontopfs und Betje fast die Luft zum Atmen nahm. Sobald der Nebel durch die Gassen quoll und eine graue Hoffnungslosigkeit ihr bis ins Mark kroch.

»Ich will nach Amerika.«

»Ich auch!«

Zacharias’ Lachen, das aus seinen Augen glänzende Kohlesplitter machte, war ansteckend. Lebhaft und warm, entlockte es auch Betje ein Lächeln.

»Ich habe schon fast das Geld für die Überfahrt zusammen«, erzählte Zacharias, überschäumend vor Begeisterung. »Aber das reicht nicht. Man kann da nicht als armer Schlucker hin, weißt du? Auch wenn das Geld dort auf der Straße liegt, musst du etwas hermachen, um es wirklich zu was zu bringen. Aber bald, bald bin ich so weit. Und dann sag ich goodbye , elendes Gängeviertel!«