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In hohem Bogen schleuderte er den Apfelgriebsch in das Fleet, sodass die Tauben von den Mauervorsprüngen schwirrend aufflogen. Beiderseits der Brücke waren die Häuser so hoch, dass sie das Licht des Tages aussperrten und die Schiffer unten in den Kähnen im Halbdunkel werkeln mussten.

Zacharias wusste viel über Amerika zu erzählen. Ein weites und raues Land sollte es sein und so wild, dass es jede Schwäche unbarmherzig bestrafte. Das einzige Gesetz dort war das Gesetz des Stärkeren, und wer sich gegen alle anderen durchzusetzen verstand, wurde mit grenzenloser Freiheit belohnt, mit Macht und Reichtum. Keinen Augenblick zweifelte Betje daran, dass Zacharias es schaffen würde, so gewitzt, wie er war, so selbstsicher und wagemutig.

»Wir können ja zusammen nach Amerika fahren«, schlug er irgendwann vor.

Betje konnte nur nicken. Ihr Herz pochte heftig, während die Möwen in halsbrecherischem Sturzflug über das Fleet hinwegschossen, um dann über die Dächer aufzusteigen. Was für ein Gefühl musste das sein, die Enge hinter sich zu lassen, den Schmutz und die Not, und sich leicht und frei geradewegs in den blauen Himmel aufzuschwingen.

Hier in Hamburg war ihr das Meer so nahe wie nie zuvor in ihrem Leben, und doch blieb es unerreichbar weit entfernt.

»Spürst du das?«, fragte Zacharias. »Wie die weite Welt hier hereinschwappt und uns lockt?«

Betje sah nur, wie das schlammige Wasser dahintrieb und die Schiffer sich darin gegen die Strömung abmühten. Das rußgeschwärzte Mauerwerk und die verzogenen Balken, den Sprung in einer Fensterscheibe. Trotzdem nickte sie erneut. Das Zusammensein mit Zacharias war ihr zu wertvoll, sie wollte es nicht verderben.

Mit einem übermütigen Grinsen ging Zacharias weiter über die Brücke. Betje zögerte. Jenseits dieses Fleets war sie noch nie gewesen. Zumindest soweit sie es wusste. Zwischen den unzähligen Wasserwegen und endlosen Häuserfluchten kam sie sich in Hamburg manchmal vor wie eine Maus in einem endlosen Kornfeld.

Eine Wasserträgerin stapfte daher, angestrengt das Schulterjoch mit den beiden vollen Eimern im Gleichgewicht haltend. Unten bellten sich die Schiffer gegenseitig Anweisungen zu, fluchten und rissen Witze. Hinter einem geöffneten Fenster keiften zwei Frauen miteinander. Solange andere Leute in der Nähe waren, konnte Betje sich bestimmt in Sicherheit wähnen.

Zacharias rief nach ihr, in der Hand einen zweiten rot leuchtenden Apfel, den er irgendwo hervorgezaubert hatte. Seine dunklen Augen glommen kurz auf, bevor er den Apfel an seinen Mund drückte, wie es die Männer mit den Würfeln beim Glücksspiel taten, und ehe Betje es sich versah, warf er ihn in ihre Richtung. Betje, die ihr Leben lang bei den Ballspielen der anderen Kinder außen vor gewesen war, reckte sich danach, wider besseres Wissen. Zu ihrer eigenen Überraschung fing sie den Apfel auf, unbeholfen und beinahe über ihre Füße stolpernd. Allein ihre schmutzigen Fingernägel, die sich in das Fruchtfleisch gruben, verhinderten, dass er ihr sogleich wieder aus der Hand glitt. Aber sie fing ihn, und verblüfft lachte sie auf.

»Siehst du, ist ganz leicht«, rief Zacharias. »Sogar mit nur einer Hand!«

Eine seiner Brauen hob sich in seinem schönen fremdartigen Gesicht, auf freundliche Art listig.

»Was ist das für ein Gefühl, einfach die Hand auszustrecken und zuzupacken, wenn du etwas haben willst?«

Betjes Antwort war ein glückliches Lächeln; als ob sie weitaus mehr zu fassen bekommen hatte als einen Apfel, so fühlte es sich an. Unter dem Stundenschlag von Sankt Nikolai schloss sie zu Zacharias auf, um mit ihm zusammen mehr von der Welt zu entdecken, die Hamburg war.

10

Für Christian Petersen war der Glockenklang von Sankt Nikolai wie sein eigener Herzschlag gewesen, solange er zurückdenken konnte. Das Kirchenläuten hatte ihn geweckt, zum Abendbrot nach Hause gerufen oder das Mädchen, das er gerade küsste, hastig davonstieben lassen, bevor dessen Mutter sich auf die Suche machte. Ein verlässlicher und manchmal viel zu strenger Taktgeber, während er und Thilo auf dem Kehrwieder, der Elbinsel am Binnenhafen, von kleinen Jungen zu Männern heranwuchsen.

Seit einem Jahr zählte Sankt Nikolai ihm die Stunden hier am Neuen Wall vor. Aus der anderen Richtung kommend, dafür näher und lauter; nahezu die einzige Konstante, die aus seinem früheren Leben mit umgezogen war.

An diesem Morgen erwies sich die Kirchturmuhr am Hopfenmarkt als besonders gnadenlos. Während draußen der schöne Herbsttag munter voranschritt, war Christian in seinen neuen vier Wänden zum Stillstand verdammt.

»Marie«, wiederholte er sanft den Namen seiner zweiten Tochter.

Das kleine Mädchen, das vor ihm auf dem Boden saß, zeigte jedoch noch immer keine Regung. Mit weher Zärtlichkeit strich Christian über das seidige Blondhaar und fragte sich einmal mehr, was in ihrem Kopf vorgehen mochte. Was ihre großen blauen Augen, die ins Leere starrten, wohl sahen?

»Marie«, bemühte er sich unverdrossen weiter. »Komm, wir ziehen dir etwas anderes an.«

Behutsam fasste er sie beim Ärmel ihres Spielkleids, heiß geliebt und schon mehrfach geflickt, seit dem Frühstück außerdem mit Spuren von Ei und Kakao versehen. Sofort versteifte sich das Kind. Der stockende Atem verriet, dass sich der nächste Schreianfall zusammenbraute. Neben wenigen anderen Lauten war das die einzige Äußerung, die Christian und Henny je von ihrer Tochter zu hören bekamen, auch mit eineinhalb Jahren noch.

»Schon gut«, murmelte Christian und streichelte ihr besänftigend über die Schulter. »Ist ja gut, meine Kleine.«

Sein Leben lang war Ungeduld seine größte Schwäche gewesen. Jetzt lehrte Marie ihn jeden Tag, sich alle Zeit der Welt zu nehmen.

Mit der Fingerspitze wischte er eine Speichelspur von ihrem Kinn. Das kaum sichtbare Lächeln, das dabei in ihrem Mundwinkel zitterte, löste ein halb schmerzliches, halb seliges Ziehen in seiner Brust aus.

Es war ein solcher Schock gewesen, vor fast genau zwei Jahren. Aus Indien mit dem Entschluss heimgekehrt, sich von Henny zu trennen, hatten nur wenige Augenblicke gereicht, um nichts von seinen Träumen und Hoffnungen und Plänen übrig zu lassen. Als er mit bangem Mut zur Tür hereingekommen war und Henny im Bett vorfand, aufgedunsen und schwerfällig, hatte sie zu weinen begonnen. Vor Erleichterung, dass er heil zurück war und sie endlich nicht mehr allein mit der Angst um das Kind in ihrem Bauch, das es ihr so schwer gemacht hatte, das ganze halbe Jahr lang, mit Übelkeit und Schwindel, Schmerzen und Blutungen.

Eine Nacht im Ehebett, Monate her und Christian kaum im Gedächtnis geblieben, hatte sein Schicksal besiegelt.

Wie ein Schlafwandler war er durch jene Tage und Wochen getaumelt. Mit seiner Schwiegermutter Mathilde Pohl hatte er sich um Henny und seine erste Tochter Jette gekümmert, die ganz verstört war, und mit Thilo um den Vater, der sich zwischen der Sorge um Henny und dem Gemischtwarenladen buchstäblich aufgerieben hatte, bis der Stumpf über seinem Holzbein blutete und eiterte und einen Eingriff des Arztes nötig machte.

Christian konnte nur raten, ob seine Miene damals genauso zu Stein erstarrt war wie die Katyas. Ob in seinen Augen dieselbe Traurigkeit zu lesen gewesen war, die Ahnung einer Endgültigkeit. Er jedenfalls war erleichtert, als mit dem Winter die Zeit für Katya gekommen war, nach Norwegen aufzubrechen, ins Eis.

»Marie, schau mal«, versuchte er erneut, die Aufmerksamkeit seiner kleinen Tochter zu wecken. »Das da hat Tante Katya für dich genäht. Tante Katya. Für dich. Für Marie.«

Marie blinzelte nicht einmal, als er ihr die winzige norwegische Tracht hinhielt. Auch auf Katyas Namen reagierte sie nicht, obwohl sie doch sehr an ihr hing. Soweit man das bei Marie einschätzen konnte.

Machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst , hatte die Hebamme gesagt, als sie ihm das kleine Bündel übergeben hatte.