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Sie hatte beide gemeint, Mutter und Neugeborenes.

Wie mit Zähnen und Klauen hatte sich dieses Kind dagegen gewehrt, von den Wehen aus dem Mutterleib herausgetrieben zu werden, obwohl es nie den Anschein gehabt hatte, dass es sich darin besonders wohlfühlte. Manchmal war es Christian so vorgekommen, als wollte sein ungeborenes Kind ebenso wenig hier sein wie er selbst. Vielleicht hatte es immer schon gewusst, was für eine Angst ihm diese Welt machen würde, mit ihrem grellen Licht, dem Lärm, den vielen Menschen und der ständigen Unruhe. Sie war noch nicht bereit dafür gewesen, einige Wochen zu früh gekommen.

Umso verbissener hatte sie sich in die Eingeweide ihrer Mutter gekrallt und daraus ein Schlachtfeld gemacht.

Arzt und Hebamme hatten Henny wieder zusammengenäht und Blutungen gestillt und das Fieber in Schach gehalten. Schließlich hatte Mathilde Pohl Jette zu sich nach Hause genommen, kam aber täglich vom Brook herüber, um Henny in ihrem Wochenbett zu versorgen, und Christian hatte mit dem Neugeborenen dagestanden. Allein.

Jede Kinderfrau, die er holte, hatte nur einen kurzen Blick auf das Kind geworfen und den Kopf geschüttelt. Keine hatte es riskieren wollen, dass dieser schrumpelige Winzling mit den spindeldürren Ärmchen und Beinchen, der Kopf nur apfelgroß, unter ihren Händen wegstarb und man ihr die Schuld dafür gab.

Halten Sie es warm , hatte eine ihm geraten und ihm mitfühlend viel Glück gewünscht.

Während das Feuer zum Schutz gegen die Januarkälte Tag und Nacht hoch aufloderte, hatte Christian schwitzend vor Hitze und Angst seine Tochter umhergetragen, die nicht aufhören wollte, gellend zu schreien, als ob man ihr die von nässendem Ausschlag übersäte Haut in Streifen abzog. Zwischen erbrochener Milch und durchfallbesudelten Windeln hatte er Marie in sein geöffnetes Hemd geschoben, damit sie an seiner bloßen Brust zu liegen kam, während er sich mit wattigem Kopf abmühte, Geschäftsbriefe zu schreiben und Werbeanzeigen zu entwerfen. Immer in der Angst, er könnte dabei einnicken und das Kind fallen lassen. Ihm in einer unbedachten Bewegung den dünnen Hals abknicken, die filigranen Rippen brechen oder einfach feststellen, dass es nicht mehr atmete.

Die Erschöpfung, die sich allzu bald bei ihm und Marie breitmachte, hatte nichts Friedliches gehabt. Ein fortdauernder Krieg war es gewesen, in dem seine kleine Tochter ihn erbittert anklagte, überhaupt auf der Welt sein zu müssen, und er genauso hartnäckig darum rang, dass sie am Leben blieb, mit wachsender Hilflosigkeit und schwindender Hoffnung.

Wie ein frischer Windhauch war dann Katya über die Schwelle geweht. Christian hatte nie herausgefunden, ob es Thilo gewesen war, der ihr nach Norwegen geschrieben hatte, oder sein Vater, oder ob eine dunkle Ahnung sie vorzeitig hergetrieben hatte. Kühl und klar hatte sie das Heft in die Hand genommen, die Wohnung gelüftet und geputzt und kräftigende Suppe gekocht, und als er sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, hatte sie ihm Marie abgenommen. Nicht mit dem verzückten Girren, das Frauen beim Anblick eines Babys von sich gaben, sondern mit dem dunklen Murmeln des Russischen. Eine strenge Falte zwischen den Brauen, hatte sie das kreischende Kind auf dem Tisch vor sich gemustert, während sie sich daran zu erinnern versuchte, wie die Frauen in Russland ihre Kinder stramm in ein Tuch banden.

Die Stille danach war ohrenbetäubend gewesen. Maries schlafschwerer Atem, ihr zufriedenes Schmatzen und Nuckeln eine solche Erlösung, dass Christian hätte weinen mögen, wäre er nicht zu müde gewesen.

Wann immer er auf dem Sofa aus bleiernem Schlaf hochgeschreckt war, mit einem bösen Gefühl, einem Anflug von Panik, rollte grenzenlose Erleichterung über ihn hinweg, sobald er Marie wohlbehalten in Katyas Armen entdeckte. Ein Buch auf den Knien, wiegte sie die Kleine im Schaukelstuhl in den Schlaf oder gab ihr die Flasche mit Ziegenmilch, die Marie wesentlich besser vertrug als die einer Kuh. Sobald Katyas Blick auf seinen traf, hatten sich ihre Augen aufgehellt, und ein Lächeln hatte sich zwischen ihnen entfaltet.

Christian war fast sicher, dass sie es genauso empfunden hatte wie er. Ein Mann. Eine Frau. Ihr Kind. Und dazwischen unendlich viel Liebe.

Bis ihnen einfiel, dass es nicht Katya gewesen war, die Christians Tochter zur Welt gebracht hatte, und einer von beiden aufstand, um nach Henny zu sehen.

Sachte schob Henny die Tür zum Kinderzimmer auf. Sie waren es gewohnt, sich auf Zehenspitzen zu bewegen, die Stimmen zu dämpfen, wegen Marie. Nur Jette, inzwischen schon ein Schulmädchen, tat sich oft schwer damit, die großen Räume der Wohnung luden einfach zu sehr zum Toben ein.

Eigens für die Kinder waren sie auf die schmale Landzunge umgezogen, die sich zwischen Bleichen- und Alsterfleet erstreckte. In eines der noblen Wohnhäuser, wo die hohen Fenster freundliches Licht hereinließen und viel frische Luft, so hoch oben, dass kaum je die Geräusche von der Straße störten. Zwischen den Gesetzeshütern im Stadthaus und den vornehmen Gasthäusern König von Preußen und König von England , in die sie manchmal sonntags Vater und Mutter Pohl zum Essen ausführten, wusste Henny ihre Familie gut aufgehoben.

Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Selbst ein Herz aus Eis schmolz dahin, sah man Christian mit Marie zusammen. Liebevoll und mit unerschöpflicher Geduld versuchte er, das Mädchen aus seinem Dämmerzustand zu holen, jeden seiner noch so kleinen Fortschritte feiernd wie einen Meilenstein. Stolz schob er seine kleine Tochter in dem Kinderwagen, den er aus London mitgebracht hatte, und genoss sichtlich die hingerissenen Blicke der Passanten entlang der Alster.

Jette war ein hübsches Kind, ein richtiger Sonnenschein, aber Marie glich ganz und gar einem kleinen Engel, feingliedrig und mit zarten Zügen, die Locken wie gesponnenes Gold. Vielleicht von der Natur als Ausgleich gemeint, machte es nur augenfälliger, was mit ihr nicht stimmte.

Zurückgeblieben, lautete das Urteil sämtlicher Ärzte, zu denen sie mit dem Kind gepilgert waren, sogar bis nach London. Nicht ungewöhnlich bei einer Frühgeburt, aber irreparabel.

Seien Sie froh, dass sie sonst gesund ist , hatte man ihnen am Ende immer mit auf den Weg gegeben.

Christian hob den Kopf, und sein Blick wurde weich.

»Wunderschön siehst du aus.«

Henny errötete und strich verlegen über das Kleid, das sie sich für den Tag hatte schneidern lassen. Nach Maries Geburt und dem anschließenden Fieber waren von ihr nichts als Knochen und lose Hautfalten übrig geblieben. Nur mit Mühe hatten ihre Mutter und Katya sie wieder aufgepäppelt. Seitdem hatte Henny jedoch beständig an Gewicht zugelegt, auch wenn sie noch oft auf ihren geliebten Schnopkram verzichtete und Haushalt und Kinder sie auf Trab hielten.

Ein hellblaues Kleid war es, das sie trug, genau wie ihr eigenes Hochzeitskleid vor sieben Jahren.

Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Henny.« Christian stand vom Boden auf. »Was ist denn?«

»Nichts. Es ist nur … Ich muss schon den ganzen Morgen an unsere eigene Hochzeit denken. Wie glücklich wir da waren.«

Während sie sich angekleidet und frisiert hatte, war ihr ein Märchen ihrer Kindheit in den Sinn gekommen, das mahnte, gut abzuwägen, was man sich wünschte.

Sie hatte das feine Zuhause bekommen, von dem sie immer geträumt hatte, sogar ein Kindermädchen für Jette und eine Reinemachefrau konnten sie sich leisten. Und nichts, nichts hatte sie sich jemals sehnlicher gewünscht als noch ein Kind.

Der Preis dafür war entsetzlich hoch gewesen.

Oft dachte sie an die ersten Jahre als junge Ehefrau zurück. Sie hätte sich damit zufriedengeben sollen, im Gemischtwarenladen Mehl und Erbsen für die Kundschaft abzuwiegen und in der Wohnung darüber mit Jette und Christian und ihrem Schwiegervater ein gutes Leben zu führen. Womöglich war es eine Sünde gewesen, mehr zu begehren.

Christian zog sie in seine Arme.

»Wir sind doch glücklich«, flüsterte er in ihr blondlockiges, zu komplizierten Schleifen aufgestecktes Haar. »Nur anders als früher.«