Sich an Christians sehnige Schlankheit zu schmiegen, in die Wärme und den Duft seiner Haut, entzündete wieder den Funken, aus dem ihre Ehe entstanden war. Wie bei den allerersten Küssen, mit denen sie ihn überfallen hatte, an jenem Nachmittag auf dem Pohlschen Kanapee.
»Henny.«
Christian lachte leise auf und küsste sie auf die Schläfe; erst als er sich ihr behutsam entwand, bemerkte sie selbst, wie fest sie ihn umschlungen hatte. Wie gierig.
Traurigkeit wusch über sie hinweg, während sie zusah, wie Christian sich wieder auf dem Boden niederließ, um Marie doch noch dazu zu bewegen, sich ihr Spielkleid ausziehen zu lassen. Dieses Kind, das sie von innen her beinahe zerrissen hatte, war ihr fremd geblieben. Vielleicht durch seine Eigenarten, vielleicht, weil sie die erste Zeit mit ihm verpasst hatte.
Noch ein Kind würden sie nicht bekommen können. Erneut füllten sich Hennys Augen mit Tränen.
Zu schwer lasteten die düsteren Schatten auf dem Ehebett, die der Arzt ihr ausgemalt hatte, sollte Henny gegen jede Wahrscheinlichkeit noch einmal ein Kind empfangen. Mit dem Umzug an den Neuen Wall hatte jeder sein eigenes Schlafzimmer bezogen.
In Hennys Gesicht, immer schon eher drollig als wirklich hübsch, hatte sich eine Schwere breitgemacht, vor allem unter dem Kinn und um die Augen herum. Matronenhaft, mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren. Auch an Christian waren diese zwei Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Jetzt, da er sich den dreißig näherte, hatten sich seine scharfen Züge noch einmal stärker herausgeprägt. Hager beinahe, doch auf eine schneidige Art, die Frauen unverändert attraktiv fanden, besonders, wenn seine blitzblauen Augen manchmal wie verloren in die Ferne blickten. Das bemerkte Henny sehr wohl.
Sicher gab es nicht viele Männer, die auf Dauer der Verlockung widerstanden, sich anderswo das zu holen, was sie zu Hause nicht mehr bekamen. Sich am Ende sogar scheiden ließen, weil die Frau ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte und ihnen keines mehr schenken konnte, und Henny war unendlich dankbar dafür, dass ihr Christian keiner von dieser Sorte war.
Sankt Nikolai mahnte eine weitere halbe Stunde an.
Henny riss sich zusammen, atmete tief durch. »Wir werden zu spät kommen. Sofern wir es überhaupt noch schaffen.«
Seit Kathi Mommsen und Betty Haferkamp merklich von ihr abgerückt waren, als wäre Maries Zustand eine ansteckende Seuche, die auch ihre Kinderschar befallen könnte, fühlte sie sich oft einsam. Doch sosehr sie sich danach sehnte, wieder unter Leute zu kommen, fürchtete sie auch deren Blicke auf Marie. Die sicher gut gemeinten, aber manchmal verletzenden Fragen und Bemerkungen, die ungebetenen und vollkommen nutzlosen Ratschläge.
»Dann bleiben wir eben hier«, lautete Christians ungerührte Antwort.
»Wir können nicht bei der Hochzeit deines Bruders fehlen.«
Katya gegenüber hatte Henny sich immer befangen gefühlt. Wie eine schnatternde und plumpe Gans, verglichen mit Katyas leiser Zurückhaltung, ihrer fast schon exotischen russischen Eleganz, die alles zu durchdringen schien, was sie in die Hand nahm. Dabei wusste Henny, dass Katya und Grischa als Kinder unvorstellbar arm gewesen waren, Katya in ihrem Haushalt genauso tüchtig wirtschaftete wie Henny in ihrem. Und zimperlich konnte sie ja nicht sein, wenn sie jeden Winter mit den Männern ins Eis fuhr. Christian hatte ihr erzählt, wie rau es dort zuging, wie hart sie schuften mussten. Trotzdem war es Henny nie gelungen, eine solche Nähe zu Katya entstehen zu lassen, wie sie es von Betty und Kathi gekannt hatte. Von Frieda und ihren anderen Freundinnen, früher.
Aber Katya war da gewesen, wann immer Henny aus dem Sumpf ihres Fiebers auftauchte, mit Tee und Suppe. Mit einem feuchten Tuch, um ihr den sauren Schweiß abzuwaschen, selbst von einer wohltuenden Kühle.
Seither hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Bei dem Gedanken, dass Katya nun wirklich zu einer Art Schwester würde, wurde es Henny warm ums Herz; alles andere würde vielleicht folgen.
Die fliegenden Schritte kleiner Lackschuhe näherten sich und machen abrupt halt.
»Wir gehen nicht zur Hochzeit?«
Blankes Entsetzen zeichnete sich auf dem Gesicht von Jette ab. Wildblumen zierten ihre zum ersten Mal hochgesteckten Blondzöpfe. Seit Wochen hatte sie diesem Tag entgegengefiebert, von nichts anderem geredet und jeden Abend die kleine Tracht gestreichelt, die Katya ihr genäht hatte.
»Dann geh du mit Jette«, schlug Henny ihrem Mann vor. »Und ich bleibe mit Marie hier.«
Christian schwieg.
Diese Feier hätte er sich gern erspart. Obwohl es nichts daran ändern würde, dass Katya die Frau seines Bruders wurde. Dass sie künftig das Bett mit ihm teilen würde, während er seinem Sehnen unter der Zudecke nachgeben musste wie ein Halbwüchsiger.
»Alles wegen Marie!«, rief Jette übermäßig heftig aus und stampfte mit dem Fuß auf.
Im Sitzen begann Marie vor und zurück zu wippen, ein Summen in der Kehle und die Finger flatternd wie Schmetterlingsflügel.
Ein Warnsignal.
Beruhigend rieb Christian ihr über den Rücken und streckte die andere Hand nach Jette aus, die nur widerstrebend auf ihn zutrat.
»Du weißt doch, Marie macht das nicht mit Absicht«, erklärte er. »Sie kann nicht anders.«
Jette warf einen finsteren Blick auf ihre kleine Schwester, die sie nicht nur vom Platz des Kükens verdrängt hatte, sondern dazu noch den Löwenanteil an Zeit und Zuwendung ihrer Eltern verschlang. Mit der sie nicht spielen und auch sonst nichts anfangen konnte.
»Können wir uns nicht ein anderes Baby holen?«, flüsterte sie hoffnungsvoll.
Christian verbiss sich ein Schmunzeln, und gleichzeitig versetzte es ihm einen Stich.
»Nein, Jette. Marie gehört genauso zu uns wie du.«
Jette kaute auf ihrer Unterlippe, während sie angestrengt nachdachte. Dann erhellte sich ihre Miene.
»Wenn ich geduldiger bin mit Marie, bekomme ich dann eine Katze?«
Ihr sehnlichster Herzenswunsch, bislang immer konsequent ausgeschlagen. Christian hob die Augen zu Henny, die auffordernd mit den Brauen zuckte, um ihm zu bedeuten, dass er der Mann im Haus war, er entschied.
»Lass uns morgen darüber reden, ja?«
Mit einem Jubellaut schlang Jette die Arme um ihn; sie kannte ihren Vater.
Christian drückte sie an sich und sog ihren Duft nach Sonnenlicht und Honig ein. Er wusste, dass er strenger mit ihr sein sollte, er brachte es nur nicht fertig. Jette musste viel zu oft zurückstecken und hätte noch dazu beinahe ihre Mutter verloren. Nachdem er seine ältere Tochter in ihren ersten Lebensjahren wie aus der Ferne erlebt hatte und ein paar Monate lang nur als Besucherin an Hennys Krankenbett, genoss er das enge Band umso mehr, das seitdem zwischen ihnen gewachsen war.
Christians und Hennys Blicke verschränkten sich in einem Lächeln.
Das war alles, was zählte. Jette. Marie. Und Henny.
Es war furchtbar gewesen, sie in den Wehen so leiden zu sehen. Wie sie sich Hilfe suchend an ihn geklammert hatte, Todesangst in den Augen, weil sie deutlich spürte, dass es dieses Mal nicht nur wieder eine schwere Geburt würde, sondern etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Jahre später hatte er wirklich begriffen, warum Grischa damals der Meinung gewesen war, Katya sei zu jung für ihn. Am Ende waren es tatsächlich die Frauen, die den Preis für Lust und Leidenschaft zahlten. Das nahm man nicht auf die leichte Schulter, bei aller Verliebtheit nicht.
Bis dass der Tod uns scheide, würden Thilo und Katya in weniger als einer Stunde einander feierlich geloben.
Christian schämte sich bis ins Mark für den Gedanken, was gewesen wäre, hätte Henny diese Geburt nicht überlebt. Dafür, dass er überhaupt eine Scheidung in Erwägung gezogen hatte. Maries Einschränkungen und Hemmnisse waren die Strafe dafür, so kam es ihm manchmal vor. Aber auch eine Chance, alles wiedergutzumachen. Seine Buße, jeden Tag aufs Neue.
Henny war nicht nur die Mutter seiner Töchter, sondern auch ein liebenswerter Mensch. Sie verdiente das beste Leben, das er ihr bieten konnte, ihr und den beiden Mädchen.