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»Ta«, hauchte Marie und tastete über die Blütenstickerei der Tracht.

Sie mochte Blumen und tat nichts lieber, als sie mit ihren zierlichen Fingern in ihre Bestandteile zu zerrupfen.

»Ja, Katya hat das gemacht. Für dich, Marie. Fühl mal.«

Einen Arm noch um Jette gelegt, fuhr Christian mit der Trachtenbluse über Maries Wange. Katya hatte darauf geachtet, schmeichelnde Stoffe zu verwenden, weil das Kind nichts auf der Haut vertrug, was nicht seidenweich war.

»Was meinst du, Marie? Machen wir uns fein und gehen zu Tante Katyas Hochzeit?«

Maries zart getuschte Brauen zogen sich gequält zusammen. Wie in einem inneren Kampf, in dem sie wieder und wieder gegen ihre eigenen Mauern anrannte.

Schließlich hob sie ungelenk einen Arm. Ihr Zeichen, dass sie sich dazu überwand, ihr vertrautes Spielkleid gegen etwas Neues, Unbekanntes zu tauschen.

Es waren Momente wie dieser, die sie aufatmen ließen. Die Hoffnung gaben, dass eines Tages die Schale aufbrechen würde, mit der Marie sich vor dieser beängstigenden Welt zu schützen versuchte.

Ihr Muschelkind.

Die Morgenstoppeln rings um den Bart abgeschoren und in seinem besten Anzug, stieg Grischa das Treppenhaus am Kehrwieder hinauf. Großzügiger war es als früher, heller und freundlicher, die Stufen neu und begleitet von einem schön geschnitzten Handlauf.

Das Haus glich in nichts mehr demjenigen, in dem er damals als Achtzehnjähriger seine erste eigene Bleibe gefunden hatte. Über Monate hinweg war es gründlich saniert und renoviert worden, von den vier Eisbaronen zu gleichen Teilen finanziert. Eine Investition, die langfristig über die entsprechend angepassten Mieten wieder hereinkommen sollte.

Nur die Aussicht war noch dieselbe, zum Wasser hin auf die Silhouette Hamburgs mit den Türmen von Sankt Michaelis und Sankt Nikolai und Sankt Katharinen, auf der anderen Seite in die finsteren und verwinkelten Gänge der Hinterhäuser. Auch die Klangkulisse aus dem glucksenden Wasser des Binnenhafens, den Rufen der Schiffer und dem Kreischen der Möwen war geblieben, ebenso die Katzen, die den Speicher gegen Mäuse und Ratten verteidigten.

Vor der Wohnung im obersten Stockwerk machte Grischa halt. Einige Jahre hatten sie zu dritt hier gelebt, Katya in einem, Thilo und er im anderen Zimmer. Die längste Zeit davon als Paar. Mehr oder weniger.

Kurz nach der Rückkehr von ihrer ersten Fahrt nach Indien war Grischa ausgezogen. Erst in ein Gasthaus, dann zur Untermiete in ein möbliertes Zimmer, seit ein paar Monaten in eine kleine Wohnung mit Blick auf die Schiffe im Hafen. Spärlich eingerichtet, nutzte er sie nur, um dort zu baden und sich umzuziehen, für ein paar Stunden Schlaf. Ein Liegeplatz auf einem Trockendock, während er weiter durch das Leben kreuzte, ohne Kompass und Karte, ohne festes Ziel.

Grischa legte die Hand an die Wohnungstür. Auch sie war neu, die Räume dahinter andere, nach mehreren Mauerdurchbrüchen mit der Nachbarwohnung verschmolzen. Fast schon ein Haus für sich, wie geschaffen für eine große Familie.

Thilo hatte so sehr um ihn gekämpft, bis zuletzt. Auch als es schon aussichtlos gewesen war. Was blieb, war eine tiefe Narbe quer über Grischas Herz. Noch peinvoller durch ein Gefühl des Versagens, an dem er nichts ändern konnte. Seine Entscheidung ließ sich nicht rückgängig machen, selbst wenn er es gewollt hätte. Er konnte Thilo nicht das geben, was dieser sich am meisten ersehnte, am meisten brauchte. Beständigkeit. Treue. Ein Heim. Kinder.

Katya konnte, und Katya wollte, und Katya sollte alles haben, was sie begehrte. Das Beste war gerade gut genug für seine Schwester, daran hatte sich nichts geändert.

Grischa atmete tief durch und klopfte an.

Staunend betrachtete er seine Schwester, die ihm in der Tür gegenüberstand. In einer Tracht, die ihre eigenen Farben wiederholte, Schwarz, Weiß, Blau, einzelne Wildblumen in ihrem zu einem schlichten Knoten geschlungenen Haar.

»Schau dich nur an«, entfuhr es ihm zärtlich.

Als hätte er eben erst begriffen, dass sie nun wirklich und wahrhaftig kein Mädchen mehr war.

Stumm und ein bisschen verlegen lächelten sie einander an, Bruder und Schwester, beide hochgewachsen, sie eine schlanke Birke, er mit seinen dunklen Farben eine mächtige Eiche. Dieser Tag markierte eine Wasserscheide auf ihrem gemeinsamen Weg, das wussten sie beide.

»Katyuscha.«

Grischa nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. Wie er seine Schwester das allererste Mal gehalten hatte, als sie noch keine Stunde alt gewesen war und er ein kleiner Junge. Aufgewühlt und ergriffen von diesem Wunder in seinen Händen und zugleich vom Schock eines unermesslichen Verlusts. Sein Trost an jenem Tag aus Eis und Schnee, an dem er seine Mutter verloren hatte.

»Was auch immer zwischen Thilo und mir gewesen ist … Ich weiß, er liebt dich. Er wird der beste Ehemann und Vater sein, den du finden konntest.«

Katya nickte und umschlang ihren Bruder fest, um ihm all das zu sagen, wofür Worte nicht ausreichten. Dann machten sie sich Hand in Hand auf den Weg, über die Brooksbrücke hinüber nach Sankt Katharinen, ihr Backsteinbug leuchtend wie Kupfer in der Herbstsonne.

Vor dem Portal stand Arno Petersen bereit. Hünenhaft wie sein älterer Sohn, stützte er sich auf den Gehstock, der fast kahle Kopf spiegelnd im Licht und das Gesicht gerötet vor aufgeregtem Vaterstolz. Die Anzughose verbarg sein Holzbein, neu wie manche der Balken in seinem Gemischtwarenladen.

Ein Vermögen hat das gekostet , erzählte er gern jedem, der es hören wollte, und klopfte kräftig mit der Faust dagegen. Ein Vermögen. Das Beste, was es zu kaufen gibt. Haben meine Kinder mir bezahlt, mit dem Geld, das sie in Indien gemacht haben.

Meine Kinder.

Für Arno Petersen ging an diesem Tag ein Herzenswunsch in Erfüllung. Das war ihm anzusehen, während seine wasserblauen Augen blinzelten und es um seinen Mund zuckte, weil er nicht die passenden Worte fand. Katya drückte ihm die Hand, um ihm zu sagen, dass sie ihn auch so verstand, und hakte sich bei ihm unter.

Über die Blüten, die Jette gleichermaßen strahlend wie ernsthaft vor ihnen ausstreute, und begleitet von den Wellenklängen der Orgel, schritt Katya an Arnos Arm durch die kleine Kirche. Auf Thilo zu, der im Regenbogenlicht der Glasfenster auf sie wartete.

11

Hanno verstaute den Nachttopf mit der rissigen Glasur zwischen den alten Büchern, den Zeitungsstapeln und Kleiderbündeln, bevor er sich die staubigen Hände an seiner Hose abklopfte und sich zu Pawel auf den Rand des Karrens setzte.

Wortlos reichte ihm Pawel eines der beiden fett gebutterten und dick belegten Brote, die ihnen die Hausherrin mit auf den Weg gegeben hatte. Es erstaunte Hanno immer wieder, dass die Leute ihnen sogar noch etwas zu essen schenkten, als Dankeschön, ihren alten Plunder los zu sein; hier in Hamburg war wirklich die Großzügigkeit zu Hause.

Obwohl es hohl in Hannos Magen rumpelte, teilte er das Brot sorgsam und schlug eine Hälfte davon in Papier ein.

»Für Betje«, erklärte er, auf Pawels fragenden Blick hin, und schob das Päckchen in seine Jackentasche.

Pawel kaute ungerührt weiter, zupfte aber seinerseits einen Schinkenfetzen vom Brot und hielt ihn Pies hin, der gierig danach schnappte und sich dann die Schnauze leckte, das Verlangen nach mehr in seinen Hundeaugen.

»Kommt ihr zurecht?«, fragte Pawel nach dem nächsten Bissen.

Hanno nickte, wenn auch zögerlich.

Was Pawel dabei im Gesicht des Jungen lesen konnte, überraschte ihn nicht. Träume welkten schnell hier in der Stadt. Besser, man hegte gar nicht erst welche, das wusste Pawel aus eigener Erfahrung.

»Wollt ihr nicht lieber wieder nach Hause?«, schlug er nach einer längeren Pause vor.

Entschlossen schüttelte Hanno den Kopf. »Auf keinen Fall.«

Das Leben in Hamburg war härter, als er es sich vorgestellt hatte, doch je mehr er sich an diesen Härten rieb, umso stärker fühlte er sich.

Hanno mochte die Arbeit bei Pawel, obwohl es eine Schmutzarbeit war und manchmal eklig, wenn sie auf Spuren von Kotze oder Kot stießen, auf tote Mäuse, skelettierte Vögel oder grässliches Krabbelgetier. Es gefiel ihm zu sehen, wie andere Leute lebten, und unter all dem Unrat den einen oder anderen Schatz zu entdecken. An den Tagen, an denen Pawel in der Werkstatt blieb, ging Hanno ihm beim Hämmern und Sägen und Leimen zur Hand und lernte dabei eine Menge über die unterschiedlichen Werkstoffe, über den Wert von Dingen und wie man sie am besten reparierte. Sicher konnte er das alles irgendwann einmal brauchen.