Seine Zukunft sah er ebenso wenig als Altwarenhändler wie früher als Knecht. Aber bis er wusste, was er wirklich wollte, war er glücklich damit.
Pawel warf Pies den letzten Brotbrocken hin, bevor er aus seiner Hosentasche ein paar Münzen für Hanno abzählte.
»Für gestern.«
Hanno starrte auf das Geld in seiner Hand. Pawel vermochte nicht zu deuten, ob die gerunzelte Stirn des Jungen Zweifel oder Unzufriedenheit ausdrückte.
»Ein Drittel«, setzte Pawel schroff hinzu. »Wie abgemacht.«
»Natürlich. Danke«, beeilte sich Hanno zu versichern; trotzdem hing ein Zögern in seiner Stimme. »Du hast doch gesagt, ich kann von dir alles bekommen, was ich brauche.«
Pawel ruckte mit dem Kopf, um den Jungen zum Weitersprechen aufzufordern.
»Und wenn es nun etwas ist, das ich nicht brauche, sondern einfach haben will?«
»Was willst du denn so unbedingt?«
Hanno griff hinter sich in den Karren und fischte ein weiches Knäuel von verstaubtem Rostbraun heraus. Behutsam entwirrte er das fleckige Samtband.
»Betjes Haare sind so lang geworden«, erklärte er. »Das stört sie. Sie hat mich schon ein paarmal gefragt, ob ich sie ihr abschneide. Aber es sind doch so schöne Haare.«
Glühende Flecken erschienen auf seinen Wangen.
»Kann sie sich überhaupt einen Zopf machen, mit ihrem Arm?«
Grüblerisch kratzte Hanno an einer verkrusteten Stelle im Samt herum.
»Meine Schwester und meine Mutter haben sich immer gegenseitig die Haare geflochten. Das kriege ich doch bestimmt auch hin.«
Hanno erkundigte sich immer noch nach seiner Schwester, in jeder Straße, jeder Gasse, die er mit Pawel betrat. Auch wenn seine Hoffnung langsam fadenscheinig zu werden begann.
Hamburg war eine verblüffend kleine Stadt, voll von bekannten Gesichtern und kurzen Wegen. Doch gerade in der Neustadt und auf dem Grasbrook waren die Häuserblöcke von Gängen durchlöchert wie ein Sieb; vermutlich konnten Menschen Jahre hier verbringen, ohne sich auch nur ein einziges Mal über den Weg zu laufen. Und Hanno konnte nicht sicher sagen, ob Frauke überhaupt noch hier war. Nicht auszuschließen, dass sie jenseits der Stadttore nach etwas Besserem gesucht hatte.
Die Ungewissheit nagte an dem Jungen, und umso enger schien er sich an Betje zu binden. Pawel machte sich Gedanken, wie es für ihn sein würde, sollte das Mädchen es tatsächlich schaffen, nach Amerika aufzubrechen.
Er nahm Hanno das Band aus den Händen und rieb es prüfend zwischen den Fingern. »Den Samt da kannst du nicht waschen. Das musst du ausbürsten. Siehst du, so.«
Aufmerksam beobachtete Hanno, wie Pawel eine kleine Bürste aus der Jackentasche zog und erstaunlich zartfühlend das Band von Staub und Schmutz befreite, das Rostbraun nach und nach zum Leuchten brachte. Kirchenglocken ganz in der Nähe ließen ihn aufhorchen, dieses Geläut kannte er noch nicht.
»Sankt Katharinen«, erklärte Pawel, ohne aufzublicken. »Die Kirche der Seemänner und Fleetschiffer, der Bootsbauer und Segelmacher und der ganzen anderen Leute auf dem Grasbrook. Das Gold oben auf dem Turmdach ist aus Störtebekers Schatz geschmiedet.«
Hanno riss die Augen auf. »Du nimmst mich auf den Arm!«
»Sehe ich aus wie jemand, der zu Scherzen aufgelegt ist?«, rüffelte Pawel ihn, ohne eine Miene zu verziehen.
»Würde dir ab und zu gut stehen.«
Unter Hannos keckem Grinsen hielt Pawel inne. Dann stieß er ein Lachen aus, trocken und rau, das erste, das Hanno je von ihm gehört hatte.
Eine Hochzeit bedeutete Glück und Segen, Hoffnung und Zuversicht. Nicht nur für Braut und Bräutigam, deren Anverwandte, die Freunde und Gäste. Zeuge einer Hochzeit zu sein, war, wie mit dem Finger über die rußige Schulter eines Schornsteinfegers zu streichen, ein vierblättriges Kleeblatt am Wegesrand zu finden oder ein Hufeisen, das auf der Straße lag.
Darauf hoffte die Menschentraube, die sich unter Orgelchoral und Glockenläuten vor dem Portal von Sankt Katharinen versammelte. Vor allem aber wollten alle Anteil nehmen an diesem Freudentag für die Petersens. Wie man es immer tat auf dem Grasbrook, in Freud und Leid, bei Geburt und Taufe, Todesfall und Begräbnis, die Grenze zwischen neugierigem Tratsch und aufrichtigem Mitgefühl fließend.
Man kannte sich in der Gegend, war Stammkunde bei Arno Petersen oder hatte zumindest schon einmal bei ihm eingekauft, im Wirtshaus ein Bier oder einen Klaren mit ihm gehoben. Die Geschwister Voronin kannte man nicht annähernd so gut, aber nach all den Jahren waren auch sie keine Fremden mehr. Aus Moskau gekommen oder Sankt Petersburg oder Sibirien, verarmter Landadel, hatte jemand erzählt, vielleicht sogar mit dem Zarenhaus verwandt. Vorstellen konnte man sich das bei Grischa Voronin, dem die Frauen reihenweise nachliefen. Bei Fräulein Katya, die bislang jedem Junggesellen, der seine Fühler nach ihr ausstreckte, mit einem entschuldigenden Lächeln ausgewichen war und nun also die Schwiegertochter von Arno Petersen wurde.
Sieben Jahre nachdem Christian Petersen die Tochter von Schiffsmakler Pohl geehelicht hatte, wagte nun auch endlich der spröde Thilo den Gang vor den Altar, mit dreißig; man hatte ja schon gemunkelt.
Dass es vier junge Leute aus ihrer Mitte waren, die es mit Einfallsreichtum, Fleiß und vor allem aus eigener Kraft zu etwas gebracht hatten, machte stolz. Und gerade, weil so viele Familien hier unter der französischen Besatzung ebenso gelitten hatten wie die Petersens, freute man sich doppelt darüber, dass jene düsteren Zeiten nun ein für alle Mal der Vergangenheit angehörten.
»Kiek mal, da.« Zacharias wies in Richtung der Kirche. »Da heiratet Geld wieder mal noch mehr Geld.«
Die Kirchenglocken und das Stimmengewirr, schon etliche Ecken vorher zu hören, hatten ihn und Betje angelockt.
Betje reckte sich, ein halb herrliches, halb scheußliches Gefühl im Bauch, der voll war mit den süßen Teilchen, die Zacharias an einem Bäckerstand für sie beide gestohlen hatte. Zu sehen bekam sie jedoch rein gar nichts, zu viele Köpfe waren ihr im Weg.
»Woher weißt du, dass da jemand mit Geld heiratet?«, fragte sie.
»Weil die Reichen wissen, dass sie wer sind, und genau so geben sie sich auch. Da, sieh selbst.«
Zacharias zog Betje in eine Lücke zwischen den Schaulustigen hinein.
Betje hatte noch nie so schöne Menschen gesehen. Die Braut erinnerte an einen der Schillerfalter auf den Wiesen zu Hause, der Bräutigam wirkte zwar steif wie ein Silberreiher in seinem grauen Anzug, war aber trotzdem ein sehr gut aussehender Mann. Das Schönste aber war das Glück, das aus den Augen der beiden sprühte und sie wie mit einem Goldschimmer umgab.
Zacharias flüsterte ihr mit heißem Atem etwas ins Ohr, aber Betje hörte ihm nicht mehr zu.
Hemmungslos starrte sie die Braut an. Ungewöhnlich groß für eine Frau, hielt sie sich vollkommen aufrecht, als würde ihr gar nicht einfallen, den Kopf einzuziehen und sich kleiner zu machen. Und genauso wenig schien sie sich darum zu scheren, dass eine Braut immer ihr bestes Kleid trug. Ihre Tracht war zwar hübsch und reich bestickt, ja, aber eben nur eine Tracht, und der Brautstrauß aus ganz gewöhnlichen Wiesenblumen und Gräsern, die man überall finden konnte.
Wie das wohl ist, fragte sich Betje, durch die Welt zu gehen, wie es einem gefällt, und den Blicken der Leute sogar noch mit einem Lachen zu begegnen? Ob Schönheit wohl noch mehr Schönheit anzog und vollkommenes Glück dazu? Das musste er sein, der Unterschied zwischen reichen Leuten und bettelarmen wie Betje, von dem Zacharias gesprochen hatte.