II Eistremor
Hamburg, 1837
Eistremor , deutsch; ice tremor , englisch. Ein Beben in schwerem Meereseis. Für die gewöhnlichen Sinne des Menschen nicht wahrzunehmen, wird es beispielsweise durch das Zittern an der Oberfläche einer quecksilbergefüllten Schüssel sichtbar. Ursache für diesen Tremor ist Eis, das Dutzende von Meilen entfernt zersplittert.
12
Zwei Stufen auf einmal nehmend, jagte Christian die Treppe zum Kontor hinauf. Der blaue Läufer im Vorraum erinnerte an einen Fluss wie die Elbe oder die Themse. Gerahmte Karten von Küsten und Ozeanen und ein Globus holten die große Welt herein, während eine Apothekerwaage und Rechenschieber illustrierten, dass man hier verlässlich und genau arbeitete.
Die beiden Schreiber, die Petersen & Voronin inzwischen beschäftigte, blickten von ihren Papieren auf. Christian erwiderte nur kurz ihren Gruß und hastete weiter in den kleinen Salon. Das Herzstück des Kontors. Hier baten sie ihre Kunden an den runden Tisch, an dem sie sich dann mit eigenen Augen überzeugen konnten, wie gut der gediegene hanseatische Stil und indisches Kunsthandwerk harmonierten, während sie importierten Kaffee tranken. Derselbe Tisch, an dem auch die vier Eisbarone miteinander lebhaft und manchmal hitzig um Entscheidungen rangen oder wenigstens um einen Kompromiss.
»Entschuldigt«, kommentierte Christian atemlos seine Verspätung. »Aber Marie …«
Bereits vor weit über einer Stunde hatte Thees, einer der Laufburschen, am Neuen Wall an die Wohnungstür geklopft. Hörbar gehemmt aufgrund der frühen Uhrzeit, aber mit unmissverständlicher Dringlichkeit. Morgens war Marie besonders empfindsam. Erst als sich ihre schrille Aufregung über den unerwarteten Besucher so weit beruhigt hatte, dass Christian sie guten Gewissens mit Henny allein lassen konnte, war er in den bereitstehenden Wagen gesprungen.
Katya, die Augen fast schwarz im bleichen Gesicht, nickte nur. Wegen Marie kam Christian häufig zu spät, und sie hatten alle Verständnis dafür. Wann immer er konnte, arbeitete er zu Hause; Thees legte in der Woche etliche Meilen zwischen dem Neuen Wall und dem Kontor zurück, eine Mappe mit Papieren unter dem Arm.
Christian wischte sich den Schweiß von der Schläfe, der Sommertag begann schon warm.
»Was gibt es denn so Wichtiges?«
Die Tasse Tee, die Katya ihm mit einer Geste anbot, lehnte er dankend ab, obwohl er nicht gefrühstückt oder auch nur einen Schluck Kaffee getrunken hatte. Er war noch nicht einmal dazu gekommen, sich zu rasieren.
Thilo, der Mund ein dünner Strich, zog einen der Stühle vom Tisch zurück.
»Du setzt dich besser mal.«
Christians Magen zog sich angstvoll zusammen. Seine Gedanken wanderten sofort zu seinem Vater. Doch wenn etwas mit Arno Petersen gewesen wäre, hätte man ihn wohl kaum ins Kontor geholt.
Grischa löste sich vom Fenster, das auf das Dovenfleet hinausging, und durchquerte den Raum, um die Tür zu schließen. Auch er war blass unter seiner sonnenbraunen Haut, erst vor einigen Tagen von seiner Fahrt nach London zurückgekehrt.
»Wir haben die Maiden of the Seas verloren.«
Mit weichen Knien ließ Christian sich auf den angebotenen Stuhl fallen.
Thilo hatte ausgerechnet, dass sie mit zwei Fahrten nach Indien mehr Umsatz machen, vielleicht sogar neue Kunden gewinnen konnten. Im Februar, sobald die Albatros mit der ersten Fuhre aus Norwegen eingetroffen war, war die Maiden in See gestochen; im April war ihr die Aurora gefolgt, um noch einmal Eis auszuliefern, in der großen Hitze vor dem Monsun.
Eis hatten sie genug. Seit dem vorletzten Winter gehörte ihnen zusätzlich zum Voroninvatnet noch der Isvatnet weiter im Landesinneren. Kleiner zwar, aber mit ebenso gutem Eis.
»Wie ist das passiert?«, wollte Christian wissen.
»Ein Zyklon«, erklärte Grischa. »Im Golf von Bengalen. Kurz vor Madras.«
Das Schreckgespenst, das den Händlern von Hamburg stets an den Fersen hing, den Reedern und Schiffsmaklern. Ein Nachtalb, dessen kalten Atem sie umso deutlicher im Nacken spürten, je mehr Schiffe auf den Meeren kreuzten.
Zwei Dutzend aus aller Herren Länder waren es jeden Monat, von denen die Schiffsmeldungen berichteten. Irgendwo auf der Welt auf Grund gelaufen oder von einem launischen Wind abgetrieben und an der Küste gestrandet. Leck geschlagen oder mit einem anderen Segler zusammengekracht. Von den Wellen verschlungen oder einfach vom Ansturm der Elemente zerquetscht.
Wenn die Natur ihre Muskeln spielen ließ, konnte man nur hoffen und beten.
»Was ist mit der Besatzung?«
»Konnte sich zum Glück an den Trümmern über Wasser halten, bis ein anderer Segler sie aufnahm.« Grischas Stimme klang rau, wie aufgerieben. »Der Maat und drei der Matrosen werden allerdings vermisst, hat Herr Witte geschrieben.«
Benjamin Witte arbeitete seit dem vergangenen Jahr für die Firma. Ein Schneider aus der Neustadt, der als junger Mann in halb Europa gearbeitet hatte und den mit den ersten grauen Haaren noch einmal die Abenteuerlust packte. Überschlank und fast zerbrechlich, schien er stets in anderen Sphären zu schweben. Doch seinen wachen Augen entging nicht die kleinste Unregelmäßigkeit in der Färbung, kein Webfehler, keine mangelhafte Fadenqualität. Das hatte er unter Beweis gestellt, als er Grischa, Katya und Thilo nach Madras begleitet hatte; in diesem Jahr würde er den Einkauf selbstständig leiten.
Christian atmete tief durch. Es hätte schlimmer kommen können.
Dann erst traf es ihn mit voller Wucht. Unter normalen Umständen wäre Grischa mit an Bord gewesen. Katya und vielleicht sogar Thilo, und sein leerer Magen drehte sich um. Nun streckte er doch die Hand nach einer der Tassen aus und bedankte sich mit einem Nicken bei Katya. Das heiße Getränk beruhigte seinen Magen, gab ihm etwas zum Festhalten.
»Wir haben überlegt«, erklärte Katya, als sie sich wieder setzte, »eine gewisse Summe an die Hinterbliebenen zu zahlen. Je nachdem, was die Reederei für solche Fälle vorgesehen hat, sogar eine Rente. Schließlich ist in den Familien der Seeleute nun niemand mehr da, der die Heuer nach Hause bringt.«
Christian nickte, kräftiger dieses Mal. »Unbedingt. Vielleicht sollten wir künftig eigens dafür Geld zur Seite legen. Eine Art Fonds für solche Unglücksfälle.«
Ein einstimmiges Lächeln schien zwischen ihm und Katya auf.
»Ich fürchte, dafür wird erst einmal kein Budget übrig sein«, schnitt Thilos Stimme dazwischen.
Christian sah seinen Bruder fragend an. »Wir sind doch versichert, oder nicht?«
»Wie man’s nimmt. Der Verlust des Schiffs als solches muss uns aus finanzieller Sicht nicht kümmern, das ist die Angelegenheit der Reederei. Wir haben mit der Charter unseren Obolus für die Schiffsversicherung entrichtet, und die entsprechenden Formalitäten sind sicher schnell geklärt. Damit sind wir fein raus. Uns hat nur unsere Fracht zu interessieren. Und die war zum Einkaufswert versichert. Was, wie ihr ja wisst, nicht besonders viel ist bei gefrorenem Wasser aus einem norwegischen See.«
In Christians Augen blitzte es zornig auf. »Warum, um alles in der Welt, hast du es denn nicht teurer versichert?«
»Weil es sich dann nicht mehr lohnt«, entgegnete Thilo in aller Seelenruhe. »Die Versicherungsprämie berechnet sich nach der Wahrscheinlichkeit, ob ein gewisses Ereignis eintritt oder eben nicht. Der Seeweg nach Indien ist riskant, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schiff auf dieser Reise verloren geht, entsprechend hoch, und das lässt sich die Versicherung teuer bezahlen. Noch teurer, wenn die zu versichernde Fracht auf einen hohen Wert beziffert wird. Dutzende Male ist es bisher gut gegangen, erst jetzt hat es uns erwischt, das ist ein verdammt guter Schnitt. Hätte ich das Eis bei jeder Fahrt für die maximale Summe versichert, hätten wir kaum je mehr als ein paar Mark daran verdient.«