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Dennoch legte sich seine Stirn in sorgenvolle Falten, als er die hastig hingeworfenen Zahlenreihen vor sich musterte.

»Der Verlust der Einnahmen durch das Eis ist jedoch nur ein Teil des Problems. Selbst wenn Herr Witte noch billiger einkauft, als wir es bisher geschafft haben, und die Aurora bis in den letzten Winkel vollstopft, wird er damit nicht den Stauraum ausgleichen, den uns die Maiden bei ihrer Rückfahrt geboten hätte. Für uns bedeutet das also eine doppelte Umsatzeinbuße.«

»Wie schlimm ist es?«, hakte Christian nach.

»Eine genauere Kalkulation bekommt ihr, sobald ich alles gründlich durchgerechnet habe. Dafür war heute Morgen noch keine Zeit. Grob abschätzen kannst du es aber genauso gut wie ich, anhand der Größe der beiden Schiffe. Knapp zwei Drittel.«

»Haben wir nicht irgendwelche Rücklagen?«, erkundigte sich Grischa, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und bisher nur aufmerksam zugehört hatte.

»Kaum. Nicht in diesem Jahr mit seinen ganzen Investitionen.«

Drückend wie eine Gewitterwolke war die Stille, die sich über den Raum senkte.

Mit der Maiden of the Seas hatten sie mehr verloren als ein Schiff. Seit ihrer allerersten Fahrt nach Madras stand der bauchige und behäbige Segler für den Erfolg ihrer Geschäftsidee, die grenzenlos und unermesslich schien, himmelstürmend geradezu. Jetzt, da der Segler im Sturm zerschellt war, gerieten auch sie ins Schwimmen und mussten Wasser treten, das erste Mal seit Jahren wieder.

Im Nachhinein kam es Christian wie ein schlechtes Omen vor, dass das Glück, das er und Katya in Madras gefunden hatten, an Bord jenes Schiffes geblieben war. Falls Katya dasselbe dachte, verriet ihr Gesicht nichts darüber. Als Thilo die Hand auf die seiner Frau legte, sich beide tief in die Augen sahen, vertrauensvoll und einander aufmunternd, wandte Christian den Blick ab.

»Und wenn wir die Aurora wieder verkaufen?«

Christians Vorschlag stieß auf sichtlich wenig Gegenliebe, nicht nur bei Grischa. Zu lange hatten sie darauf gespart, sich diesen Traum zu erfüllen. Ein Baltimore-Klipper war es geworden, wie sie im Opiumhandel Großbritanniens mit China eingesetzt wurden. Zwar deutlich kleiner als die Maiden, war der Dreimaster dennoch erstaunlich geräumig. Vor allem war die Aurora schnittig und schnell; bei günstigem Wind würden sie sicher mehr als zwei Wochen auf jeder Fahrt einsparen.

Thilo zuckte mit den Schultern.

»Die gehört zur Hälfte noch der Bank. Unterm Strich kommt es womöglich günstiger, das Darlehen einfach weiter abzuzahlen. Den Mietvertrag für den Liegeplatz können wir auch nicht fristlos kündigen. Andererseits würden wir uns dadurch die Kosten für eine regelmäßige Überholung des Seglers sparen. So oder so wird das einzig Gute sein, dass wir für dieses Jahr nicht viel an Steuern zahlen.«

Seufzend erhob er sich und sammelte die Papierbögen mit den hastig hingeworfenen Berechnungen ein.

»Wenn ich mich ranhalte, kann ich euch morgen sicher mehr sagen. Spätestens übermorgen. Dann sehen wir weiter.«

»Vielleicht kannst du auch gleich ausrechnen, wie viel mehr wir mit dem einnehmen müssen, was Benjamin Witte uns mitbringt.« Christian rieb sich über das stoppelige Gesicht. »Ich kümmere mich solange um unsere Kunden.«

Katya und Grischa blieben im Salon zurück. Der Verlust der Maiden und ihres Eises war eine Last auf ihrer aller Schultern, die sich nur schwer abschütteln ließ.

»Lass das doch einen der Angestellten machen«, sagte Grischa leise, als Katya damit begann, das Teegeschirr abzuräumen.

Sie schüttelte den Kopf, sie brauchte das Gefühl von Ordnung unter ihren Händen.

»Wir haben so vieles überstanden«, versuchte er, ihnen beiden Mut zu machen. »Wir werden auch das überstehen.«

Katya nickte, das wusste sie, sie hatte gelernt, darauf zu vertrauen. Trotzdem blieb es ein herber Rückschlag, der ihr einmal mehr bewusst machte, wie unberechenbar das Leben war. Wie unsicher.

Grischas Blick fing sich an dem Buddelschiff zwischen den Flaschen mit Whisky, Scotch und Cognac auf der Anrichte. Mit Kunden auf einen gelungenen Abschluss anzustoßen, das gehörte zum guten Ton bei Petersen & Voronin.

»Die ganze Zeit frage ich mich, ob ich es hätte verhindern können, wäre ich an Bord gewesen«, sagte Grischa.

»Ich weiß«, antwortete Katya.

Grischa, dem es im Nacken kribbelte, sobald das Wetter umschlug, und Katya, die unter den Fingerspitzen das Zittern der Kristalle in noch frischem Eis spürte. Ein Instinkt, der ihren jeweiligen Charakter, ihr Temperament durchzog und sie auf besondere Weise verband. Eine Gabe, auf der dieses Geschäft ruhte und ihnen eine besondere Verantwortung übertrug.

»Vielleicht hättest du es verhindern können«, fügte Katya hinzu. »Vielleicht wäre aber auch dir etwas passiert. Oder es hätte nicht die Maiden erwischt, sondern ein paar Wochen später die Aurora. «

Der Blick, der zwischen ihnen hin und her ging, tröstete sie beide.

Neue Träume hatten sie gehabt, die nun erst einmal auf unbestimmte Zeit aufgeschoben waren. Christian hatte angeregt, das Kapital der Firma so breit gefächert wie möglich anzulegen. Dem Besitzer dieses Hauses bei den Mühren hatten sie ein Angebot machen wollen, weitere Häuser und Grundstücke im Auge gehabt. Besonders Grischa, der nirgendwo recht Wurzeln schlagen konnte, hungerte danach, hier in Hamburg Land sein Eigen zu nennen.

Katya richtete sich auf. »Wie geht es Elli?«

»Gut.« Ein Lächeln zuckte in seinem Mundwinkel. »Und die Kleine gedeiht prächtig.«

Der beste Grund für Grischa, in diesem Jahr nicht selbst ein Schiff nach Indien zu steuern, war die bevorstehende Geburt seiner ersten Tochter gewesen. Aurora Valentina; Elli hatte der Name des Schiffs so gut gefallen, und sie war damit einverstanden gewesen, den Namen von Grischas Mutter hinzuzufügen. Wie aus Marzipan und Karamell gemacht, dachte Katya jedes Mal, wenn ihre Nichte in ihrem Arm strampelte, und von hinreißender Pummeligkeit. Kein Wunder, dass sie jetzt schon ihren Vater um den Finger wickelte, mit jedem Lächeln, jedem Augenaufschlag.

Grischa sorgte für Elli und deren Mutter, hatte eine größere und schönere Wohnung für sie gefunden, für das Neugeborene ein Sparguthaben angelegt, und wo er schon einmal dabei war, für ihren Halbbruder Tristan gleich mit.

Von Heirat war dennoch nie die Rede. Katya wusste nicht einmal, ob die beiden noch ein Paar waren.

»Hast du von Silja gehört?«, fragte Grischa. »Meinen letzten Brief hat sie unbeantwortet gelassen.«

»Sie hat bestimmt viel zu tun, um diese Zeit des Jahres.«

Katya kannte die Briefe ihres Bruders, ungeduldig wie er selbst. Wahrscheinlich auch dann noch, wenn es um ein gemeinsames Kind ging. Sie war nur froh, dass Silja endlich den Schritt gewagt hatte, Grischa von ihrer beider Sohn zu schreiben.

»Du solltest sie besuchen. Sie und Magnus.«

»Ja, das sollte ich.«

Grischa sah zum Fenster, in den klaren blauen Sommerhimmel hinaus. Die Vorstellung eines Jungen, der ihm ähnlich war, mit Siljas Fuchsaugen, und doch ein ganz eigener kleiner Mensch, erfüllte ihn mit Staunen, aber auch mit Scheu.

Bei Aurora war es leichter gewesen. Sie hatte er langsam kennenlernen dürfen, mit den ersten Tritten in Ellis Bauch. Ein paarmal war er versucht gewesen, das Weite zu suchen und erst zurückzukehren, wenn das Kind geboren war. Er war geblieben, auch die ganzen Wehen hindurch. Bis er sein Kind das erste Mal in den Händen hielt, puterrot und eine Schnute ziehend, das Gesichtchen noch ganz zerdrückt und die Finger schrumpelig, als wäre sie stundenlang durch die Alster geschwommen, um zu ihm zu kommen.

Seine Tochter. Sein größtes Glück, wenn ihre Augen, glänzend wie Knöpfe, die seinen suchten, ihre Händchen über sein Gesicht tasteten, um ihn noch besser kennenzulernen. Bei Aurora fand er ein Gefühl des Friedens, das er zuvor nicht gekannt hatte. Eine Art von Liebe, neben der alles andere verblasste.