Katya hatte keine Mühe, dem Mädchen zu folgen, im Halbdämmer der Häuserschluchten loderte sein Zopf wie eine Fackel. Das Klappern seiner Holzpantinen verschluckte Katyas leichte Schritte. Das große Tuch, dass das Mädchen zu einem Beutel geknotet und quer umgehängt hatte, war prallvoll und offensichtlich schwer. Katya hätte zu gern gewusst, wohin das Mädchen ihren satten Fang schleppte, ob zu kranken Eltern oder Großeltern, einer hungrigen Geschwisterschar.
Tiefer und tiefer führte das Mädchen Katya in die Gassen der Neustadt hinein, bis es schließlich stehen blieb und den Kopf in den Nacken legte.
»Obst, frisches Obst!«, flog seine klare Stimme zu den Fenstern hinauf, vom Mauerwerk hallend zurückgeworfen. »Gemüse, ganz frisch und dazu noch billig!«
Es dauerte nicht lange, und die ersten Hausfrauen kamen angelaufen. Ihre Zielstrebigkeit verriet Katya, dass das Mädchen sich wohl oft hier einfand, um das gespendete Obst und Gemüse zu verkaufen. Selbstsicher und gewitzt wirkte es dabei. Einen Halbwüchsigen, der einfach die Hand in den Beutel stecken wollte, trat es kräftig vors Schienbein.
Katya lächelte in sich hinein, während das Mädchen um jeden Pfennig feilschte, der dann in die Schürzentasche wanderte. Das Gesicht war noch kindlich weich, doch darunter lagerte bereits die Ahnung erwachsenerer Züge. Ein freimütiges, energisches Gesicht würde es einmal werden, und eines, das man nicht so leicht vergaß. Zwölf oder dreizehn Jahre alt mochte das Mädchen sein. Schwer zu schätzen, Armut und Elend ließen Kinder vorschnell reifen, heute noch grün, morgen schon mulschiges Obst.
Erst jetzt bemerkte Katya die schlaffe Linke des Mädchens. Nicht das erste Kind, das sie in den Gängevierteln mit einem lahmen Arm oder Bein sah, aber aus irgendeinem Grund ging es ihr bei diesem Mädchen besonders nahe.
Die Augen des Mädchens trafen sich mit Katyas und weiteten sich erschrocken, bevor es angriffslustig darin funkelte. Ein Blickwechsel, der die Luft merklich auflud. Mit dem sicheren Gespür derer, die zu viel von den hässlichen Seiten des Lebens gesehen hatten, zerstreuten sich die Hausfrauen; solcherlei Ärger sah man sich lieber aus der sicheren Entfernung hinter dem eigenen Fenster an.
Auge in Auge nur mit Katya, wurde das Mädchen unter den Sommersprossen erst blass, dann rot.
»Das machen ganz viele so«, versuchte es, sich zu verteidigen. »Am Ende des Markttags die Reste von den Ständen holen und dann vor den Haustüren anbieten. Ist nicht verboten.«
Katya nickte, das hatte sie schon beobachtet. »Nur kaufen die das Obst und Gemüse verbilligt den Marktleuten ab. Die schlagen kein Geld aus dem, was für Bedürftige gedacht ist.«
Den Kopf gesenkt, kämpfte das Mädchen sichtlich mit sich. Schließlich schickte es sich an, mit der Schulter aus dem verknoteten Ende des Tuchs zu schlüpfen.
»Sie können alles wiederhaben«, murmelte es tonlos. »Auch das Geld, das ich dafür gekriegt hab.«
»Behalt es. Geschenkt ist geschenkt. Egal, was du dann damit machst.«
Die Brauen des Mädchens zogen sich zusammen. Unschlüssig scharrte es mit einer Holzpantine durch den Schmutz auf der Gasse, seine Haltung gleichermaßen schuldbewusst wie trotzig.
Katya gefiel, wie findig das Mädchen versuchte, aus praktisch Nichts ein Geschäft zu machen. Der Wille, mehr zu erreichen, als ihre sicher karge Kost mit geschenkten Kartoffeln und Rüben aufzustocken.
»Lohnt es sich denn?«, wollte Katya wissen.
Das Mädchen zuckte mit der gesunden Schulter.
»Könnte mehr sein«, rang es sich mürrisch ab.
Katya lachte auf. »Das ist im Geschäftsleben meistens so.«
Das Mädchen ließ kein weiteres Wort verlauten, blickte noch nicht einmal auf, lief aber auch nicht weg, als Katya sich ihr näherte wie einem Reh am Waldesrand.
»Machen wir ein Geschäft«, schlug Katya vor. »Ich beliefere dich mit Obst und Gemüse, das du dann weiterverkaufen kannst.«
Das Mädchen hob den Kopf gerade so weit, dass Katya das Misstrauen in seinen Augen lesen konnte.
»Was wollen Sie dafür haben?«
»Zehn Pfennig von jeder Mark, die du einnimmst.«
»Rechnet sich denn das für Sie?«
Natürlich würde Katya draufzahlen, aber darauf kam es nicht an. Sie hätte dem Mädchen die Lebensmittel auch umsonst überlassen, hätte sie nicht mit sicherem Instinkt gewittert, dass es zu stolz dafür sein würde.
»Das lass mal meine Sorge sein. Bist du dabei?«
Betje starrte vor sich hin.
Es war nicht recht, die mildtätigen Gaben zu verkaufen, das wusste sie, obwohl immer noch besser, als zu betteln oder gar zu stehlen. Dass ausgerechnet die Braut sie dabei erwischte, die an jenem Herbsttag vor der Kirche zusammen mit ihrem Bräutigam so schön und glücklich ausgesehen hatte, vergrößerte ihre Schmach.
Die Petersens, so hießen sie, das hatte Betje aus der Menschenmenge aufgeschnappt, die sich jedes Mal um den Handkarren drängte. Die nicht einmal besonders fein angezogen daherkamen und trotzdem so reich waren, dass sie sogar Essen verschenkten.
Anfangs hatte Betje nichts davon haben wollen, es war ihr nur nichts anderes übrig geblieben. Während der wachsende Wohlstand die guten Ecken Hamburgs strahlen ließ wie nach einem Frühjahrsputz, hatten die Armen nichts davon. Brot, Milch und Fleisch wurden teurer, die Mieten für jedes noch so schäbige Kabuff stiegen.
23 Mark und 72 Pfennig lagen unter Betjes Strohsack, nach zwei Jahren.
»Willst du es dir noch überlegen?«, hakte Frau Petersen nach, mit diesem eigentümlich dunklen und kehligen Akzent, den Betje nicht einzuordnen vermochte.
Sie versuchte auszurechnen, wie viel ein Handkarren voller Lebensmittel wohl einbrachte oder auch nur eine Kiste Äpfel und Rüben. Einige Mark bestimmt, womöglich sogar mehr. Viel mehr. Und neunzig Pfennig von jeder einzelnen Mark könnten ihr gehören. Also fast alles.
Unwillkürlich schluckte Betje trocken. Sie hätte nicht sagen können, wen sie in diesem Augenblick mehr hasste, sich selbst für die Gier nach diesem Geld oder Frau Petersen, die genau wusste, dass dieses Angebot zu großzügig war, um es ausschlagen zu können. Am liebsten hätte Betje ihr den behelfsmäßigen Beutel mit dem Rest der Beute vor die Füße geworfen.
»Aber ganz frisch muss es sein«, verlangte sie unbescheiden.
»Gleich nachdem der Bauer es angeliefert hat«, versprach Frau Petersen.
»Und Brot und Wurst dazu!«
Frau Petersen lachte. »Auch Käse, wenn du willst.«
»Dann von mir aus«, erwiderte Betje, weiterhin unwirsch.
Lächelnd streckte Frau Petersen ihr die Rechte hin. »Katya Petersen. Und wer bist du?«
Verstockt musterte Betje die Frauenhand, genauso von Ackererde bestäubt wie die Schürze Frau Petersens. Reiche Leute hatte sie sich immer anders vorgestellt, wirklich schlau wurde Betje nicht aus ihr.
»Der Handschlag gehört dazu, wenn man ein Geschäft abschließt«, erklärte Katya Petersen, ein leises Lachen in ihrer Stimme. »Und außerdem würde ich schon gern wissen, mit wem ich es zu tun habe.«
Betje verbiss sich das Lächeln, das in ihren Mundwinkeln zuckte.
»Betje. Betje Hermanns.«
Katya Petersen hatte einen tatkräftigen Händedruck. Betje wusste nicht, wo sie hinschauen sollte, während sie sich von den kühlblauen Augen eingehend betrachtet fühlte, auf eine freundlich neugierige Art, unter der sie sich verlegen wand.
»Dann auf gute Geschäfte, Betje Hermanns. Ich schicke morgen einen meiner Männer mit der Ware herüber. Wieder hier? Um neun Uhr?«
Betje konnte nur nicken. Seltsam schwindelig war ihr, während sie Katya Petersen nachsah, die durch die Gasse davonging, hochgewachsen und aufrecht, die Schritte energisch. Betje spähte in ihren Beutel. Der Schwung, der sie normalerweise antrieb, Rüben und Kartoffeln feilzubieten, war verpufft, aber für heute konnte sie es gut sein lassen. Was noch übrig war, würde einen dicken Eintopf für sie und Hanno geben. Genug sogar, um zur Abwechslung einmal Pawel einzuladen und Pies.