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Harry schloss die Augen. Smith hatte seinen Fluchtplan schon lange gemacht. Für den Fall der Fälle. Und dass er Harry jetzt einweihte, konnte nur eines bedeuten. Harry würde nie die Gelegenheit bekommen, das irgendjemandem zu erzählen.

»Da vorne nach links«, sagte Steffens vom Rücksitz. »Gebäude 17!«

Oleg bog ab und spürte, wie die Räder für einen Moment durchdrehten, dann griffen sie wieder auf dem Eis.

Er wusste, dass es innerhalb des Krankenhausgeländes eine Geschwindigkeitsbegrenzung gab, aber auch, dass Berntsen keine Zeit und kein Blut mehr verlieren durfte.

Er bremste vor dem Eingang, an dem bereits zwei Männer in gelben Sanitäterwesten warteten. Mit geübten Bewegungen bugsierten sie Berntsen von der Rückbank auf die bereitstehende Krankentrage.

»Er hat keinen Puls«, sagte Steffens. »Direkt in den Hybrid-Raum. Ist das Traumatologie-Team …?«

»Es sind alle da«, sagte der ältere Sanitäter.

Oleg und Anders folgten der Trage und Steffens durch die Flure bis zu einem OP, in dem bereits ein sechsköpfiges Team mit Kitteln und Mundschutz wartete.

»Danke«, sagte eine Frau und hob die Hand als Zeichen dafür, dass Anders und Oleg hier keinen Zutritt hatten. Die Trage, Steffens und das Team verschwanden hinter zwei breiten Türen.

»Ich weiß, dass du im Dezernat arbeitest«, sagte Oleg, als es um sie herum still wurde. »Aber nicht, dass du auch Medizin studiert hast.«

»Habe ich auch nicht«, sagte Anders und starrte auf die geschlossenen Türen.

»Nicht? Das hat sich im Auto aber anders angehört.«

»Ich habe in der Schulzeit auf eigene Faust ein wenig Medizin gelernt. Ich habe aber nie zu studieren begonnen.«

»Warum nicht? Wegen der Noten?«

»Die Noten hatte ich.«

»Aber?« Oleg wusste nicht, ob er weiterfragte, weil er sich wirklich dafür interessierte, oder um sich nicht fragen zu müssen, was jetzt wohl mit Harry war.

Anders starrte auf seine blutigen Hände. »Bei mir war das vermutlich so wie bei dir.«

»Bei mir?«

»Ich wollte werden, was mein Vater war.«

»Und dann?«

Anders zuckte mit den Schultern. »Dann wollte ich das nicht mehr.«

»Und bist stattdessen zur Polizei gegangen?«

»So hätte ich sie wenigstens retten können.«

»Sie?«

»Meine Mutter. Oder Menschen in derselben Situation. Dachte ich.«

»Wie ist sie gestorben?«

Anders zuckte mit den Schultern. »Bei uns zu Hause ist eingebrochen worden, der Einbrecher wurde von meiner Mutter überrascht, der sie dann als Geisel genommen hat. Mein Vater und ich standen einfach da, bis mein Vater irgendwann hysterisch wurde und der Einbrecher auf Mama einstach, um abhauen zu können. Vater ist wie ein kopfloser Hahn herumgerannt, hat nach einer Schere gesucht und dabei geschrien, dass ich sie nicht anrühren soll.« Wyller schluckte. »Mein Vater, der Oberarzt, suchte nach einer Schere, während ich dastand und sie verbluten sah. Ich habe im Nachhinein mit ein paar Ärzten gesprochen und dabei deutlich herausgehört, dass man sie hätte retten können, wenn wir sofort das Richtige getan hätten. Mein Vater ist Hämatologe, der Staat hat Millionen investiert, um ihm alles beizubringen, was man über Blut wissen kann. Und trotzdem war er nicht in der Lage, das zu tun, was man tun muss, damit sie nicht verblutete. Wüsste die Staatsanwaltschaft, was er über lebensrettende Ersthilfemaßnahmen weiß, hätte sie ihn bestimmt wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.«

»Dein Vater hat versagt. Einen Fehler gemacht. Das ist doch nur menschlich.«

»Und trotzdem sitzt er da in seinem Büro und hält sich wegen dieses Oberarzttitels für besser als andere.« Anders’ Stimme hatte zu zittern begonnen. »Ein Polizist mit mittelmäßigem ­Abitur und einem einwöchigen Nahkampfkurs hätte den Einbrecher übermannt, bevor er hätte zustechen können.«

»Aber heute hat er nicht versagt«, sagte Oleg. »Steffens ist dein Vater, nicht wahr?«

Anders nickte. »Wenn es um das Leben eines korrupten, faulen Drecksacks wie Berntsen geht, macht er natürlich alles richtig.«

Oleg sah auf die Uhr. Nahm das Telefon. Keine Nachrichten von Mama. Er legte es zurück. Sie hatte gesagt, dass er nichts für Harry tun könne, wohl aber für Truls Berntsen.

»Es geht mich ja nichts an«, sagte Oleg. »Aber hast du deinen Vater jemals gefragt, auf wie viel er verzichtet hat? Wie viele Jahre er für die Arbeit geopfert hat, um möglichst viel über Blut zu wissen, und wie viele Menschen er dank dieses Einsatzes retten konnte?«

Anders schüttelte den gesenkten Kopf.

»Nein?«, fragte Oleg.

»Ich rede nicht mit ihm.«

»Überhaupt nicht?«

Anders zuckte mit den Schultern. »Ich bin ausgezogen. Hab seinen Namen aus meinem Leben getilgt.«

»Wyller ist der Name deiner Mutter?«

»Ja.«

Sie sahen den Rücken eines Mannes im Arztkittel, der in den OP hastete, bevor die Türen sich wieder schlossen.

Oleg räusperte sich. »Noch einmal, es geht mich nichts an. Aber denkst du nicht, dass du über deinen Vater ein etwas zu hartes Urteil fällst?«

Anders hob den Kopf. Sah Oleg in die Augen. »Du hast recht«, sagte er und nickte langsam. »Es geht dich nichts an.« Dann stand er auf und ging zum Ausgang.

»Wohin willst du?«, fragte Oleg.

»Zurück zur Universität. Fährst du mich? Sonst nehme ich den Bus.«

Oleg stand auf und folgte Anders. »Da sind doch schon genug, während hier ein Polizist liegt, der mit dem Tod ringt.« Er holte ihn ein und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Und als Polizeikollege bist du im Moment der ihm Nächste. Du kannst jetzt nicht gehen. Er braucht dich.«

Als sich Anders umdrehte, sah Oleg, dass die Augen des jungen Polizisten glänzten.

»Sie brauchen dich beide«, sagte er.

Harry musste etwas tun. Und zwar schnell.

Smith war von der Hauptstraße abgebogen und fuhr vorsichtig über einen schmalen Weg, auf dem sich rechts und links der Schnee türmte. Vor ihnen lag der Fjord und davor ein rotgestrichenes Bootshaus mit Schuppen, dessen Doppeltür mit einem weißen Holzriegel verschlossen war. Er sah zwei Häuser, eines auf jeder Seite des Weges, aber sie lagen etwas versteckt hinter Bäumen und Felsen und waren so weit entfernt, dass er mit einfachen Hilfeschreien niemanden auf sich aufmerksam machen konnte. Harry holte tief Luft und drückte die Zunge gegen die Oberlippe. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund, und kalter Schweiß rann ihm am Körper herab. Er versuchte nachzudenken, zu ergründen, was Smith dachte. In einem kleinen, offenen Boot nach Dänemark. Natürlich war das möglich, aber so dreist, dass niemand in der ganzen Polizei auf eine solche Fluchtidee kommen würde. Und was würde mit ihm selbst passieren? Wie würde Smith dieses Problem lösen? Harry versuchte, die verzweifelte Stimme der Hoffnung zum Schweigen zu bringen, die ihm einreden wollte, dass Smith ihn verschonen würde. Und die träge Stimme der Resignation, die murrte, dass ohnehin schon alles zu spät sei und es nur noch schmerzhafter werden würde, wenn er sich zu wehren versuchte.

Stattdessen lauschte er der kalten Stimme der Logik, und die sagte ihm, dass er als Geisel keine Funktion mehr hatte und Smith im Boot nur behindern würde. Smith würde keine Hemmungen haben, da er bereits Valentin und einen Polizisten erschossen hatte. Und es würde hier drinnen im Auto passieren, bevor sie ausstiegen, damit der Knall nicht so weit zu hören war.

Harry versuchte sich nach vorn zu beugen, aber der Dreipunktgurt nagelte ihn an den Sitz. Die Handschellen drückten gegen seine Beine und scheuerten an der Haut seiner Handgelenke.

Es waren noch hundert Meter bis zum Bootshaus. Harry schrie. Ein kehliges Brüllen, das in der Tiefe seines Bauchs entstand. Dann warf er sich hin und her und knallte den Kopf an die Seitenscheibe. Es knackte, und im Glas war eine runde Bruchstelle zu sehen. Schreiend stieß er noch einmal mit dem Kopf zu. Die Bruchstelle wurde größer. Ein drittes Mal, und das erste Stückchen Glas fiel heraus.